Oralee Azeem
„Und dann haben wir einfach geredet", berichtete Gwyneth begeistert, „Es kam mir so vor, als würden wir uns schon Ewigkeiten kennen."
Ich machte einen leicht skeptischen Gesichtsausdruck, doch innerlich beneidete ich sie für dieses Gespräch. Ich selbst hatte erst einige Male mit einem der Lords geredet und wenn auch nur kurz. Zu manchen Augenblicken fragte ich mich, warum ich überhaupt noch dabei war. Immerhin hatten sie die Anzahl der Ladys bewusst beschränkt. Doch es gab mir auch Hoffnung. Vielleicht sah einer von ihnen etwas in mir, ich wusste es nur noch nicht.
„Hast du mir überhaupt zugehört?", fragte Gwyneth nun schnippisch.
Ich zuckte zusammen und nickte. „Natürlich. Das klingt wirklich toll, Gwyn."
Ich hoffte, dass dies die richtige Antwort war. Doch da sie mich für einen Moment argwöhnisch musterte und dann weiterredete, schloss ich, dass sie es wohl gewesen sein musste.
Ich hatte nichts gegen Gwyneth, doch sie konnte manchmal wirklich anstrengend sein. Seit Hayes und Marielle nicht mehr im Casting waren, teilten wir uns das Zimmer nur noch zu zweit und so genoss ich ihre vollkommene Aufmerksamkeit.
„Hast du übrigens mitbekommen, dass Jade Hollow freiwillig gegangen ist?", fragte Gwyneth aufgeregt, doch wartete keine Antwort ab, „Ich habe mir schon fast gedacht, dass sie aufgibt. Immerhin hat sie nach dem Bericht dermaßen geheult, dass ich dachte, ihre Augen müssten austrocknen."
Ich horchte auf. Ich hatte nicht mitbekommen, dass Jade gegangen war. Ich wusste, dass sie sehr gut mit Colleen Manson befreundet gewesen war, welche nach dem letzten Bericht hatte gehen müssen. Doch es wunderte mich doch, da ich Jade eigentlich als sehr interessierte und offene Persönlichkeit in Erinnerung hatte. Nicht jemand, der wegen einer Freundin das Handtuch schmeißen würde.
„Echt?", fragte ich matt, musste bei diesem Mal jedoch kein Interesse vorheucheln.
Gwyneth nickte eifrig. „Ich habe es von Blair gehört. Ich weiß nicht, wie dieses Mädchen es macht, aber sie hat ihre Ohren und Augen überall."
Ich musste lächeln. Blair Mercury war tatsächlich eine geborene Tratschtante, wobei sie jedoch durch ihre fröhliche Art alle mit ihrer Energie ansteckte. Anders als Gwyneth oder Hayes es gewesen waren, konnte man es ihr nicht übel nehmen, dass sie irgendwie alles mitbekam.
„Nur warum Earline Lancaster einfach so verschwunden ist, hat sie mir nicht verraten", meinte Gwyneth und klang etwas verstimmt, „Wobei ich mir sicher bin, dass sie auch das weiß."
Ich zog die Augenbrauen zusammen. Earline Lancaster war tatsächlich die Einzige gewesen, welche sich vor dem Verlassen des Castings nicht verabschiedet hatte. Ich hatte sie nicht gekannt, weswegen ich mir darüber keinerlei Gedanken gemacht hatte. Immerhin konnte es viele Gründe für ein solchen Abschied geben. Doch andere Mädchen grübelten mehr darüber. Wie beispielsweise Gwyneth.
„Und ihr habt einen Treffpunkt ausgemacht?", hakte ich nach, um das Thema zu wechseln.
Für einen Moment schien Gwyneth verwirrt, doch dann schien sie zu verstehen, was ich meinte und nickte sie mit strahlenden Augen. „Decan ist soo nett, du glaubst es nicht."
Ich glaubte es schon. Immerhin war er nett genug, um eine Verabredung mit Gwyneth zu vereinbaren. Nicht jeder konnte es mit ihr aufnehmen, weswegen ich ihn jetzt schon bewunderte.
„Das freut mich für dich", sagte ich mit einem kleinen Lächeln und erhob mich dann, „Ich bin in ein paar Minuten mit Bronwyn verabredet. Möchtest du mitkommen?"
Zu meiner Überraschung schüttelte sie den Kopf. „Nein, aber es ist lieb, dass du fragst. Ich ruhe mich lieber noch ein wenig aus und nehme mir dann Zeit, um mich fertig zu machen. Heute Abend muss Alles perfekt sein."
Ich lächelte breit. „Na dann möchte ich dich nicht länger stören." Ich winkte ihr über die Schulter zu und verließ dann das Zimmer, um den Damensalon anzusteuern.
Als ich gerade in den Korridor einbiegen wollte, welcher zu dem besagten Raum führte, hielt ich in meiner Bewegung inne. Am Ende des Ganges, in dem ich stand, entdeckte ich eine Person. Im ersten Moment wollte ich über sie hinwegsehen, doch dann erkannte ich Lyndon.
Gerade wollte ich meine Richtung ändern und mutigen Schrittes auf ihn zugehen. Warum sollte nur Gwyneth in der Lage sein, ein Treffen mit einem der Lords zu vereinbaren? Ich wollte endlich nicht mehr nur ein Zuschauer sein.
Doch dann erstarrte ich. Lyndon war nicht allein. Er sah sich hastig um und war in Begleitung eines Mädchens. Eines Mädchens, welches ich nicht besonders gut kannte, doch welches ich schon einmal gesehen hatte. Die beiden sahen mich nicht, doch ich nahm sie nur zu deutlich wahr.
Als sie ebenfalls für einen Moment den Kopf neigte, sodass ich ihr Profil sehen konnte, blieb kein Zweifel: Das Mädchen war Earline Lancaster.
Earline
Ich hatte das Gefühl, in einen intimen Moment geplatzt zu sein. Als Lyndon und ich den Raum betraten, waren wir Zeugen einer bizarren Szene. Vor uns standen zwei Personen, die sich schweigend anstarrten. Tatsächlich, sie starrten einander an. Als würden sie sich ein schweigendes Blickduell liefern.
Hätte ich die beiden nicht gekannt, hätte ich es wahrscheinlich mit der Angst bekommen und wäre rückwärts aus dem Raum gestolpert. Doch ich kannte sie. Beide.
„Dad?", meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, doch mein Vater drehte sich abrupt um. Er sah seltsam aus. Nach wie vor erkannte ich meinen Vater in ihm, doch der Gesichtsausdruck war mir fremd. Er sah wütend, verletzt und irgendwie traurig aus.
Sofort meldeten sich meine Gewissensbisse wieder zu Wort. Wahrscheinlich war er noch immer wütend auf mich und meine Entscheidung, an der Selection teilzunehmen. Er hatte den königlichen Hof schon immer verachtet, doch besonders seit Elea verschwunden war, schien er nicht einmal über das Königshaus reden wollen. Und ich hatte ihn verraten.
Doch entgegen meiner Erwartung tat er drei lange Schritte auf mich zu und zog mich in eine feste Umarmung. „Earline", flüsterte er in meine Haare und drückte mich so fest an mich, dass die Luft drohte, meinen Wangen zu entweichen.
Ich genoss seine Wärme und Vertrautheit und die Erleichterung, welche mich angesichts seiner Reaktion durchströmte, raubte mir beinahe den Atem. Ich hatte nicht gewusst, wie sehr ich meine Familie in dem letzten Monat vermisst hatte. Zu lang war ich von ihnen getrennt gewesen. „Dad", hauchte ich erneut und musste mit den Tränen kämpfen.
Nach einigen weiteren Momenten des Schweigens löste mein Vater sich von mir und musterte mich für einen Augenblick, als würde er überprüfen, dass ich tatsächlich vor mir stand und es mir gut ging.
Als ich nicht mehr von Gefühlen überwältigt war, fielen mir unzählige Fragen ein, die ich ihm stellen musste. Fragen bezüglich Elea, bezüglich der Uhr und so ungefähr allem, was mich in den letzten Wochen beschäftigt hatte.
„Dad-", setzte ich an, doch mein Vater unterbrach mich mit einem mahnenden Blick.
„Wir reden später", sagte er leise und wandte sich dann langsam um. Nun starrte er wieder seine Blickduellpartnerin an: Die Königin.
Ich verstand nicht, was vor meinen Augen gerade vor sich ging. Das Selbstbewusstsein, mit welchem mein Vater der Königin gegenübertrat, wirkte seltsam. Ich hatte gewusst, dass er der Königsfamilie nicht gerade freundlich gesinnt war, doch obwohl er nur starrte, verhielt er sich geradezu respektlos. So kannte ich ihn nicht. Mein Vater war immer der fröhliche, freundliche Mann, der er war.
„Erst einmal haben wir einige Dinge zu klären." Es waren die ersten Worte, die die Königin seit meinem Betreten des Raumes gesagt hatte und sie klangen rau. Auch sie verhielt sich seltsam angespannt, was allerdings verständlich war, da sie im Begriff war, möglicherweise etwas über das Verschwinden ihrer Tochter zu erfahren.
Doch etwas sagte mir, dass mehr hinter ihrem seltsamen Verhalten steckte. Sie sah meinen Vater an, als wäre er ein Außerirdischer. Er hingegen sah zurück, als wäre sie eine Kakerlake.
Auf einmal durchschoss es mich, wie ein Blitz: Mein Vater und Königin Dena kannten sich.
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Blind Selection - never give up 3
FanfictionKaden. Joas. Lyndon. Decan. Einer von ihnen ist der Kronprinz von Ilea. 35 Mädchen kommen ins Schloss, um genau das herauszufinden. Doch zwischen Verrat, Druck, Schmerz und einer endlosen Suche ist es schwer sich auf das Wesentliche zu konzentrieren...