84 | der Morgen danach

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Earline Lancaster

Am Morgen danach hing eine angespannte Stimmung in der Luft, welche einen deutlichen Kontrast zu der ausgelassenen Stimmung des Vorabends darstellte. Die lange Tafel, an der die Königsfamilie stets gemeinsam ihr Frühstück einnahm, war gefüllt und ließ vermuten, dass stetige leise Gespräche den Raum fülle würden. Doch stattdessen herrschte ein kaltes Schweigen.

Ich starrte gedankenverloren auf meinen Teller, auf dem ich lustlos eine einzelne Weintraube mit meiner Gabel hin und her schob. Elea, die mir gegenüber saß, warf mir seltsame Blicke zu, schien sich angesichts der allgemeinen, unausgesprochenen Vereinbarung zu schweigen nicht dazu durchzuringen, mich auf eine schlechte Laune anzusprechen.

Ich vermied es, hinüber an das Tafelende und damit in Lyndons Richtung zu sehen. Doch er war es nicht oder zumindest nicht vorrangig, der für meine Anspannung verantwortlich war. Ich konnte eine gute Miene zum bösen Spiel aufsetzen und Lyndon ignorieren, wenn ich wollte. Doch die Tatsache, dass der mutmaßliche Entführer meiner Familie an diesem Tisch saß und gerade ein leises Gespräch mit meiner Schwester anfing, konnte ich nicht ignorieren.

Ein Blick zu meinem Vater und auf seine düstere Miene verriet mir, dass es ihm ebenso wenig gefiel, dass die beiden sich unterhielten. Doch seine Gründe waren beschützerischer, väterlicher Natur - schließlich konnte er unmöglich etwas davon wissen, was ich in der letzten Nacht erfahren hatte.

Neben Nero saß Maelle und schien als eine der wenigen an diesem Tisch blendender Stimmung zu sein. Sie schaute fröhlich in die Runde und konnte sich einen verliebten Seitenblick zu ihrem Liebhaber nicht verkneifen. Ich schüttelte innerlich angewidert den Kopf, als Nero ihre Hand ergriff und ihr etwas ins Ohr flüsterte, was sie erröten ließ. So kannte ich Maelle nicht. Natürlich kannte ich sie ohnehin nicht besonders gut oder lang, doch sie vermittelte stets das Bild einer taffen, selbstständigen Frau, die nicht dem Charme eines solchen Hochstaplers verfallen würde. Ich widerstand dem Drang, aufzuspringen, Nero zu schlagen und mich über die Ungerechtigkeit des Lebens zu beklagen, und spießte stattdessen meine Weintraube kaltblütig auf und schob sie zwischen meine Zähne. Der Gedanke daran, es wäre Neros Kopf und keine unschuldige Weintraube, bereitete mir ein Lächeln auf den Lippen.

„Wie hat dir der Ball gefallen, Earline?", fragte mich nun Quinn, die zu meiner Linken Platz genommen hatte. Sie lächelte mich mit ihrem warmen, mütterlichen Lächeln an und sogleich verpuffte etwas von meiner Wut auf alle Anwesenden. Ich konnte meine Gefühle schließlich nicht an ihr auslassen.

Ich lächelte mild. „Es war wirklich atemberaubend", sagte ich lahm. Zu einer euphorischeren Antwort konnte ich mich doch nicht durchringen.

Ich war froh, dass Quinn keine peinlichen Bemerkungen zu mir und Lyndon machte oder mich auf unsere gemeinsamen Tänze ansprach. Meine Mutter hätte mich sicherlich zu ihm ausgefragt und nicht locker gelassen, bis ich ihr augenverdrehend alles erzählt hätte. Ich seufzte leise. Ich vermisste meine Mutter sehr.

Quinn hob eine Augenbraue. „Das klingt aber alles andere als überzeugend", meinte sie, „Möchtest du darüber sprechen?"

Ich schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht, aber danke."

Froh darüber, dass sie das Thema schnell fallen ließ, schnappte ich mir eine weitere Weintraube, die ich maltretieren konnte. „Dena hat heute einen großen Familienausflug geplant. Reitest du gern?", fragte sie.

Ich hob die Achseln. „Ich bin nicht wirklich gut, aber hin und wieder ist ein Ausritt sehr nett. Elea ist die Reiterin von uns", erzählte ich ihr und nickte mit dem Kopf zu meiner Schwester.

„Das hat sie sicher von deinem Vater", meinte Quinn und stieß meinen Vater grinsend über mich hinweg an. Er schien in Gedanken gewesen zu sein und sah uns fragend an. „Er war früher ein wirklich toller Reiter. Ein richtiger Pferdeflüsterer."

Blind Selection - never give up 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt