19 Jahre zuvor
Sie schlugen sich etwa eine halbe Stunde durch den Wald. Zumindest fühlte es sich für Wilhelmina so an, doch aufgrund der Dunkelheit und ihrer fehlenden Orientierung konnte sie sich auch verschätzt haben. Ständig stolperte sie über eine Baumwurzel oder herabhängende Äste streiften sie. Sie musste mittlerweile ein vollkommen zerkratztes Gesicht haben. Das einzig positive daran war, dass es die Wahrscheinlichkeit erhöhen würde, dass sie erkannt werden würde.
Ihre freundliche Eskorte hatte sich auf Nachfrage unwirsch als Bogo vorgestellt, wobei Wilhelmina nicht wusste, ob er tatsächlich so hieß oder es eine Art Deckname war. Dieser Austausch war allerdings auch das Einzige gewesen, was er seit seiner Eingangsrede zu ihr gesagt hatte.
Im ersten Moment hatte sie die Erfolgschancen einer Flucht abgewogen und schnell beschlossen, dass es klüger wäre, zunächst keine Gegenwehr zu leisten und auf eine spätere Fluchtmöglichkeit zu hoffen. Also war sie Bogo wehrlos gefolgt.
Innerlich war sie sogar etwas erleichtert gewesen, einen anderen Menschen in dem dunklen Wald anzutreffen und wilden Tieren nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Zwar hatte sie keinen Grund zur Annahme, dass Bogo ihr freundlich gesinnt sein sollte, aber er hatte offensichtlich auch nicht vor, ihr Schaden zuzufügen. Dafür hatte er in der letzten halben Stunde bereits ausreichend Gelegenheiten gehabt.
Gerade wollte sie erneut nachfragen, wohin er sie brachte und was er von ihr wollte, doch in diesem Moment entdeckte sie ein Licht in nicht allzu weiter Ferne. Ein Seitenblick auf Bogo verriet ihr, dass er direkt darauf zusteuerte. Der Feuerschein war zwar nur relativ klein, doch er war immerhin ein weiteres Zeichen auf menschliches Leben. Gehörte er zu einem Haus? Lebten hier Menschen im Wald?
„Da wären wir", ertönte auf einmal Bogos tiefe Stimme neben Wilhelmina und sie war dermaßen überrascht, dass sie erschrocken zusammenzuckte.
Dann blickte sie auf das, was sich vor ihnen erstreckte. Es waren Steine. Riesige Steine, um fair zu sein, dennoch nicht das, was sie erwartet hätte. Sie legte die Stirn in Falten. „Hier..?", begann sie, verstummte dann jedoch, als sich die Umrisse der Felsen vor ihr schärften.
Der Feuerschein hatte von einer einzelnen Fackel gestammt, die ein jungaussehender Mann in seiner Hand hielt. Er blickte ihnen ernst entgegen, während er Wilhelmina offensichtlich kritisch musterte. Bogo steuerte zielstrebig auf ihn zu. Hinter ihm konnte Wilhelmina in den Felsen eine Art Höhleneingang erkennen. Von Weitem war er ihr nicht aufgefallen, doch nun erleuchtete die Fackel ihn eindeutig.
„Was...", begann sie erneut, doch dieses Mal wurde sie von Bogos Stimme unterbrochen. Er sprach in schneidendem Tonfall, der seine überlegene Stellung gegenüber des Jünglings verdeutlichte.
„Ich will sofort mit Erik sprechen. Sag ihm, ich bringe ihm einen wahren Schatz." Bei letzteren Worten nickte er in Wilhelminas Richtung, die dabei erschauderte. Er wusste es. Er musste wissen, dass sie die Kronprinzessin war.
Der junge Typ zögerte, während er von Wilhelmina zu Bogo blickte. „Erik wünscht, nicht gestört zu werden", sagte er und es klang, als würde er möglichst entschlossen klingen wollen. Es gelang ihm jedoch nicht ganz. Wäre Wilhelmina nicht von Nervosität, Angst und Unruhe beherrscht, hätte sie Mitleid für ihn empfunden. Sie selbst hatte ihr Leben lang gelernt, ihre Stimme zu königlich erheben und sich keinerlei Unruhe anmerken zu lassen.
„Ich werde noch heute mit Erik sprechen", wiederholte Bogo eindringlich, „Entweder du kündigst mich an oder ich gehe allein zu ihm und du wirst mit den Konsequenzen leben müssen."
Die beiden Männer schienen ein stummes Duell mit ihren Blicken auszufechten, doch dann gab der Jüngere schließlich auf. Bogo schnaubte abschätzig und blickte ihm hinterher, während er in dem Höhleneingang verschwand und Wilhelmina und Bogo damit in der Dunkelheit zurückließ. Wilhelmina fror und konnte nun nicht einmal das bisschen Wärme von der Fackel beziehen. Doch vielmehr störte sie die vollkommene Dunkelheit, an die sie sich erst einmal wieder gewöhnen musste.
„Wer ist Erik?", fragte sie schließlich und legte genau das richtige Maß an Bestimmtheit und Überlegenheit in ihre Stimme, wie sie es sich über die Jahre angewöhnt hatte.
Doch Bogo reagierte nicht, blickte nicht einmal zu ihr herab. Er machte wiederum deutlich, dass es nicht sie war, die in der Position war, Fragen zu stellen.
Nach einigen Minuten kehrte die Fackel mit dem jungen Wächter zurück, der ihnen zunickte. „Erik erwartet dich", sagte er an Bogo gewandt, „Er ist allerdings nicht besonders erfreut über die Störung. Du hast besser einen wirklich guten Grund."
Dieser Satz verriet Wilhelmina, dass der Junge ihre Identität nicht erkannt hatte. Bogo allerdings schien sich seiner Sache recht sicher zu sein. Er nickte abschätzig und schob Wilhelmina schließlich vor sich her in Richtung des Tunneleingangs.
Sie durchquerten einige dunkle Tunnel, in denen sich Bogo ohne jede Mühe auszukennen schien. Mit jeder Biegung und Anzweigung, die sie nahmen, verlor Wilhelmina umso mehr die Orientierung und ihre Aussicht auf eine erfolgreiche Flucht aus diesem Labyrinth sank.
Bogo führte sie schließlich in eine größere Höhle. Sie wirkte beinahe wie eine riesige Empfangshalle und Wilhelmina erinnerte sich unweigerlich an ihr Zuhause. Ein Blick nach oben gab die Aussicht auf eine große Öffnung in der Höhle frei, durch die tagsüber sicherlich Sonnenlicht schien. Zu den Rändern der Höhle erstreckte sich allerdings eine große Fläche, die von einer Steindecke überzogen war. Dort waren einige große Zelte aufgeschlagen, die von Fackeln beleuchtet wurden und in denen Wilhelmina vage Silhouetten erkennen konnte.
„Was ist das für ein Ort?", fragte Wilhelmina erfürchtig, während sie ihren Blick durch die Höhle schweifen ließ. Es schien sich um eine Art Camp zu handeln: In einer Ecke tummelten sich ein paar Menschen um ein Lagerfeuer, sangen und lachten leise. An einer anderen Seite konnte Wilhelmina ein Tiergehege erkennen, in dem ein paar Pferde, Kühe und Ziegen standen und sich ihre Nachtruhe wünschten. An einem Ende der Höhle könnte sie etwas wie einen Übungsplatz ausmachen. In der Mitte der Höhle, direkt unter dem Deckenloch, erstreckte sich das größte Zelt, welches eine Art Zentrale zu sein schien. Möglicherweise war es eine Versammlungshalle.
Bogo unterbrach ihre Beobachtungen und zog sie an ihrem Arm direkt auf das große Zelt zu. Zwei Wachleute flankierten den von Fackeln beleuchteten Eingang und musterten die Näherkommenden aufmerksam. Sie wirkten stoisch und beängstigend. Die Frau, welche etwas zehn Jahre älter als Wilhelmina zu sein schien, trat einen Schritt vor und nickte Bogo zu, als sie ihn erkannte. „Erik erwartet dich."
Bogo erwiderte ihr Nicken und etwas an seiner Haltung der Frau gegenüber zeugte von Zuneigung oder Respekt. Wilhelmina konnte es nicht genau deuten. Im nächsten Moment betraten sie das Zelt.
Es wirkte eher wie eine Zentrale als wie ein geselliger Versammlungsort. Am Ende saßen an einem Tisch eine Handvoll Leute, die sich über Karten und Unterlagen gebeugt unterhielten. Als sie Wilhelmina und Bogo hörten, blickten sie auf. Den Mann in der Mitte machte Wilhelmina sofort als ihren Anführer aus. Es war die Art, wie er sich in seinem Sessel aufrichtete und in gebieterischer Haltung ihrem Kommen entgegenblickte. Wilhelmina konnte ihren Blick aus Angst und Nervosität nicht von ihm abwenden.
„Bogo", sagte Erik mit ruhiger Stimme, „Warum störst du mich jetzt noch?"
Bogo stieß Wilhelmina vor und deutete auf sie. „Ich habe dir jemanden mitgebracht, Erik", sagte er, „Wil-"
„Willow", fuhr Wilhelmina ihm ins Wort und blickte ihrem Entführer einen warnenden und gleichzeitig flehentlichen Blick zu.
Bevor Erik oder Bogo reagieren konnte, hörte Wilhelmina eine weibliche Stimme, die von einer der Frauen an dem Tisch stammte. Sie hatte die anderen Personen bisher überhaupt nicht wahrgenommen. Doch nun war eine Frau aufgesprungen und starrte entsetzt in die Richtung der beiden Neuankömmlinge.
„Willow", formten ihre Lippen beinahe lautlos und etwas in Wilhelmina brach im gleichen Moment, als sie in ihr nur allzu bekannte Augen blickte.
Quinn.
Wilhelminas Beine wurden schwach und sie fürchtete, jeden Moment in sich zusammenzusacken. Sie konnte ihre Augen nicht von ihrer Freundin abwenden und ihr Kopf schien vollkommen leergefegt, obwohl sich ihr gleichzeitig tausende Fragen aufdrängten.
Erik warf Wilhelmina einen langen Blick zu und ließ mit keiner Miene erkennen, ob er ihre wahre Identität erkannt hatte. Dann nickte er schließlich langsam. Ein kleines, siegreiches Lächeln umspielte seine Lippen.
„Willow", sagte er gedehnt, „Willkommen bei den Rebellen."
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Blind Selection - never give up 3
FanfictionKaden. Joas. Lyndon. Decan. Einer von ihnen ist der Kronprinz von Ilea. 35 Mädchen kommen ins Schloss, um genau das herauszufinden. Doch zwischen Verrat, Druck, Schmerz und einer endlosen Suche ist es schwer sich auf das Wesentliche zu konzentrieren...