86 | Fremd im eigenen Zuhause

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Earline Lancaster

Nach dem Frühstück traf unsere gesamte, bunte Gesellschaft bei den Stallungen zusammen. Der Ausflug, welcher aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen für das Königspaar innerhalb der Grenzen des Hofes stattfinden musste, sollte zu dem hübschen See nahe der Südseite der Grenzen des weitläufigen Geländes gehen, bei dem ich einmal mit Maelle gewesen war.

Ich warf einen Blick über meine Schulter zu Maelle und entdeckte natürlich Nero nah an ihrer Seite. Stirnrunzelnd wand ich den Blick ab. Ich konnte mir nicht erklären, wie Neros Lügengerüst nicht längst zusammengebrochen war. Maelle selbst konnte von seiner Identität nichts wissen, da sie zu der Zeit, als Nero zu Gast gewesen war, ihre Familie in Frankreich besucht hatte. Doch das Königspaar konnte ihn wohl unmöglich vergessen haben oder nicht wiedererkennen. Außerdem müsste Lyndon den anderen von meinen Beobachtungen bereits längst erzählt und Nero ebenfalls wiedererkannt haben.

Ich seufzte leise. Wie gern wäre ich in diesem Moment zu Lyndon herübergegangen und hätte mit ihm gesprochen. Doch mein verletzter Stolz und mittlerweile auch Scham über mein naives Verhalten ließ mich stur auf der Stelle stehen bleiben. Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, mit Kaden zu sprechen, doch dann warf mein Vater einen Schatten auf mich.

„Bist du bereit?", hörte ich seine Stimme hinter mir. Ich drehte mich blinzelnd zu ihm um und blickte erstaunt zu ihm hinauf. Er saß auf einem stolzen Rapphengst, der mich aus ruhigen Augen ansah, und wirkte, als würde er genau dorthin gehören. Ich fragte mich erneut, wie es mir nie hatte auffallen können, wie vertraut mein Vater mit Tieren - insbesondere Pferden - umgang.

Ich trat vorsichtig einen Schritt auf den Hengst zu und streckte eine Hand aus, damit er mich beschnuppern konnte. „Na, wer bist du denn?", fragte ich sanft und betrachtete das Tier beeindruckt.

„Das ist Alastar", sagte mein Vater und klopfte ihm liebevoll den Hals.

Ich lächelte zu ihm auf und streichelte Alastar, nachdem er mich neugierig beschnuppert hatte, die weiße Blesse. „Ich bin bereit", sagte ich zu meinem Vater und versuchte all meine anderen Gedanken auszublenden, „Aber ich weiß nicht, ob die Pferde bereit für mich sind."

Mein Vater lachte leise. „Du machst das schon."

In diesem Moment kam Elea mit einem breiten Lächeln aus dem Stall und führte eine hübsche Fuchsstute an der Trense. Es freute mich, sie wieder so glücklich zu sehen. Der vergangene Abend war für sie eine derbe Enttäuschung gewesen: Sie hatte mehrere Stunden den gesamten Ballsaal mit den Augen nach ihrem Vater abgesucht und war überzeugt gewesen, dass sie ihn auf Anhieb erkennen würde. Schließlich hatte sie es aufgegeben und ich hatte sie überzeugen können, schlafen zu gehen. Nun strahlte sie angesichts der Aussicht, reiten zu gehen.

„Hast du noch gar kein Pferd, Line?" Sie nannte mich bei meinem alten Spitznamen, welchen sie mir als kleines Kind gegeben hatte, als sie meinen ganzen Namen noch nicht hatte aussprechen können. „Dean kann dir bestimmt schnell noch eines fertig machen."

Ich hob eine Augenbraue, als ich ihrem Finger folgte, der auf einen strohblonden Stallburschen deutete, der in diesem Moment aufsah und und schief zulächelte. „Dean also, hm?", machte ich grinsend.

Elea tat so, als habe sie meinen Kommentar überhört, doch ein kleines Grinsen auf ihren Lippen verriet mir, dass sie ihn durchaus registriert hatte. „Ja, er ist sehr hilfsbereit", erwiderte sie gedehnt.

Ich lachte. „Na dann werde ich mich von ihm wohl beraten lassen."

Bevor ich allerdings in den Stall treten konnte, schwang sich mein Vater von Alastar. „Ich helfe dir", bot er an und folgte mir in die Stallgasse. Ich war mir nicht sicher, ob ihn der Gedanke an mich und Dean aufmerksam gemacht hatte oder er einfach nur hilfsbereit war. Ich nahm seine Hilfe jedenfalls dankbar an.

Blind Selection - never give up 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt