9 | girlstalk

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Earline

Angekommen in unserem Zimmer sah ich mich erstaunt um und beschloss Joas später zu berichten, dass es mir wunderbar gefiel. Aber erst einmal richtete ich mich ein wenig ein. Mir war ein Bett am Fenster zuteil geworden, worüber ich mich freute, und jede von uns besaß einem kleinen Nachttisch. Soetwas wie einen Kleiderschrank hatten wir nicht, da alle Kleider für uns maßgeschneidert waren, erklärte man uns.

„Ich werde jetzt mit einem netten Mädchen, was ich eben kennengelernt habe, ein wenig das Schloss erkunden. Kommt jemand mit?", fragte Blair.

Da Bethany gleich nach der Begrüßung im Damensalon verschwunden war - wir wussten nicht wohin, vermuteten aber ihrem verräterischen Lächeln zufolge, dass sie sich mit Kaden traf -, blieben nur noch Angel und ich übrig. Da ich aber wenig Lust hatte mit Blair und einer Kopie von ihr, das Schloss zu erkunden, sagte ich ab, ebenso wie Angel.

„In Ordnung. Ihr seid sowieso langweilig. Wehe, ich verliere durch euch meinen guten Ruf!", sagte sie, als sie die Tpr hinter sich schloss.

Angel lächelte. „Den hat sie wohl schon vor langer Zeit verloren."

Ich setzte mich lachend in meinem Bett auf. „Also wirklich, Angeliquè! Wie unschicklich von dir, so über eine Freundin zu reden!"

„Welche Zeit genau versuchst du nachzumachen?", fragte sie mit hochgezogenen Brauen.

Ich warf ihr empört ein Kissen entgegen. „Das war wohl offensichtlich der Barrock!"

„Und ich kann dir offensichtlich versichern, dass die feinen Damen im Barrock deutlich mehr gelästert haben, als es heutzutage üblich ist", erwiderte sie grinsend.

„Achso? Du warst also dabei?", fragte ich spöttisch.

Sie zuckte mit den Schuktern. „In meinem früheren Leben bestimmt."

„Ich dachte, wir seien uns einig, dass du in deinem früheren Leben ein Engel warst?"

„Gab es zur barocken Zeit etwa keine Engel?", fragte sie.

Diesen Punkt musste ich ihr zugestehen. „Blair jedenfalls war definitiv eine der tratschenden Tanten aus dem Barrock."

„Und du?"

„Ich war ein Dienstmädchen, welches immer brav genickt hat, wenn Tante Blair etwas wollte", mutmaßte ich.

Angel lachte und schüttelte den Kopf. „Du bist keine typische Ja-Sagerin, Earline."

„Das war schon das zweite seltsame Kompliment, was ich heute bekommen habe", überlegte ich laut.

„Welches war das erste?"

„Joas sagte mir, dass ich sehr erfrischend sei. Was auch immer das bedeuten soll."

Angeliquè lächelte. „Das ist doch sehr nett von ihm. Seiner Meinung nach warst du also eine der Unterhaltungskünstlern im Barock, die die Gesellschaft bei Laune gehalten hat."

Ich verzog das Gesicht. „Vielleicht habe ich im Barock auch einfach ausgesetzt. Es scheint nicht so meine Zeit gewesen zu sein."

„Offensichtlich", meinte Angel und ich lachte. Dann schwiegen wir eine Weile. Ich ergriff die Gelegenheit, um die seltsame Stille von vorhin zwischen uns anzusprechen.

„Wenn es dich eben irgendwie verletzt hat, als ich gesagt habe, dass du zu vernünftig bist, dann tut es mir leid, Angeliquè." Ich sah sie aufrichtig zerknirscht an.

Angel lächelte sofort. „Nein, mach dir keine Sorgen. Das hat mich keineswegs verletzt."

Ich runzelte die Stirn. „Sicher? Du kannst mir gerne sagen, wenn dir das unangenehm war oder so. Ich möchte nämlich nicht, dass soetwas zwischen uns steht."

„Es ist doch nichts Schlimmes, vernünftig zu sein", sagte sie, aber ihre Stimme zitterte leicht, „Ich wurde so erzogen und ich bin sehr dankbar dafür. Mach dir keine Gedanken, Earline. Es ist alles in Ordnung."

Ich wollte sie nicht drängen, spürte aber, dass das nicht die ganze Wahrheit war. „Erzähl mir über deine Familie", bat ich sie, „Woher kommst du?"

Für einen Moment zögerte Angel, bevor sie langsam nickte. „Ich stamme aus einer ziemlich wohlhabenden Familie in Labrador. Meine Mutter ist Psychologin und mein Vater Anwalt. Die beiden haben von Anfang an nur das beste für mich gewollt, weswegen sie in meiner Erziehung vielleicht manchmal ein wenig streng gewesen sind. Ich bin schon seit ich klein bin zum Balett-, Klavier- und Gesangsunterricht gegangen. Mein Vater war meist sehr beschäftigt, aber meine Mutter hat sich sehr um mich gekümmert. Ich war ein ziemliches Mutterkind, schätze ich."

Ich lächelte. „Das ist bei mir genau anders herum. Aus irgendeinem Grund hatte ich schon immer ein besseres Verhältnis zu meinem Vater. Obwohl... Nicht unbedingt besser, aber irgendwie besonders. Weißt du, was ich meine?"

Angel zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht genau. Ich hatte zu meinen Eltern nie so ein Verhältnis, wie andere Kinder. Mein Vater hat immer ziemlich viel von mir erwartet - ich sollte der Familie nur Ehre bringen, aber meine Mutter hingegen war fast zu fürsorglich. Ich liebe die beiden, keine Frage, aber... Ich weiß auch nicht."

„Manchmal kann man sein Verhältnis zu anderen Menschen nicht genau beschreiben", meinte ich und sie nickte.

„Wie sieht's aus mit Schule? Freunde? Hattest du vielleicht einen heimlichen Freund, bevor du zum Casting gegangen bist?", fragte ich und wackelte mit den Augenbrauen.

Das brachte sie nun doch zum Lachen. „Gott bewahre! Mein Vater hätte mich umgebracht, wenn ich einen heimlichen Freund gehabt hätte. Er setzt seine ganzen Hoffnungen auf mich. Aber auch andere Freunde hatte ich nicht viel. War irgendwie zu beschäftigt, schätze ich."

Ich sah sie ungläubig an. „Wie kann man für Freunde zu beschäftigt sein?"

Sei zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Frag meinen Vater."

„Das soll nichts gegen deinen Vater sein, aber das ist ziemlich hart. Hast du dich nicht manchmal erdrückt gefühlt?"

Angel sah mich für einen Moment an und fing an bitter zu lachen. „Schon lustig, dass ich erst zu so einem primitiven Casting kommen muss, damit jemand die Wahrheit erkennt."

Ich schwieg und hatte in diesem Moment Mitleid mit Angeliquè. Die immerzu perfekte Angeliquè. Die liebe, hilfsbereite und freundliche. Wer hätte gedacht, dass ein solcher Druck auf ihr lastet?

„Nicht nur einmal", fuhr sie fort, als sie sich wieder beruhigt hatte, „Glaub es oder nicht, aber dieses Casting ist irgendwie auch ein Rückzugsort für mich. Ich muss weit kommen und mich anstrengen, klar, aber es ist das erste Mal, wo meine Eltern nicht auf jeden Schritt achten, den ich tue."

Ich legte ihr eine Hand auf den Arm und lächelte. „Deswegen warst du so perplex, als ich dich vernünftig genannt habe. Du wärst wahrscheinlich gerne mal alles andere als vernünftig."

Ein kleines Glitzern war in ihren Augen zu sehen und sie erwiderte mein Lächeln. „Lust heute Nacht einen kleinen Ausflug zu machen?"

Ich lachte. „Ernsthaft? Vielleicht sollten wir uns die rebellische Seite für später aufbewahren, wenn die Lords so von dir begeistert sind, dass es egal ist, wie viele Fehltritte du dir leistest."

„Seit wann so vorsichtig, Lancester?"

„Hallo? Wo ist die Angeliquè hin, die ich kenne? Wer bist du?"

Angel lachte und streckte mir die Hand hin. „Mein Name ist Angeliquè Estelle, die Rebellin. Nett, dich kennenzulernen."

„Irgendwie hat mir die brave Angel besser gefallen", lachte ich.

Sie stieß mich in die Seite. „Keine Sorge, die wirst du noch oft genug zu Gesicht bekommen."

„Ich glaube, wir brauchen einen neuen Spitznamen für dich. Was hälst du von Evil?"

„Mit anderen Worten, du bist dabei?"

Ich grinste. „Klar bin ich dabei."

Sie lächelte zufrieden. „Dann freue ich mich schon auf heute Nacht. Aber erst mal, komm. Das Abendessen ruft!"

Wir standen lachend auf, würden aber durch ein lautes Hämmern an der Tür unterbrochen. „Earline Lancester? Kommen Sie sofort mit erhobenen Händen aus dem Zimmer!"

Blind Selection - never give up 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt