66 | Wenn Lippen sich treffen

727 41 5
                                    

Earline

„Lyndon und... du?" Ich konnte nicht verhindern, sie entsetzt anzustarren.

Maelle zog belustigt eine Augenbraue hoch. „Es hatte einen Grund, warum es nicht funktioniert hat. Und glaub mir, ich bin froh darüber."

„Muss das nicht seltsam sein?", fragte ich und fügte noch schnell hinzu: „Ihn mit 35 anderen Mädchen flirten zu sehen."

„Ich habe kein Problem damit. Ich kenne Lyndon nicht anders. Er flirtet gern."

„Das habe ich mitbekommen."

Ich starrte gedankenverloren auf den See. Er war beinahe zu klein, um überhaupt als See bezeichnet zu werden. Wasserpflanzen, Insekten und flache Steine waren auf und in ihm zu erkennen. Es war beeindruckend, sich vorzustellen, dass sich in diesem kleinen See eine vollkommen eigenständige Lebensgemeinschaft befand. Es gab die großen Fische und die kleinen Kaulquappen, die anstrebten, irgendwann einmal zu einem Frosch zu werden. Ich war eine solche Kaulquappe. Doch anders als meine 34 Mitstreiterinnen war ich mir nicht sicher, ob ich tatsächlich zu einem Frosch werden wollte. Denn als ich meinen Frosch geküsst hatte, hatte er sich nicht auf magische Weise in einen perfekten Prinzen verwandelt. Und ich fühlte mich, als würde ich in einem jahrundertelangen Schlaf liegen und durch den Kuss nicht erweckt worden sein. Etwas war verkehrt gelaufen und nun drohte unser Märchen an Glanz zu verlieren.

„So wie ich das sehe, sollte ich dir diese Frage stellen", meinte Maelle. Sie hatte ihre Schuhe und Strümpfe ausgezogen und hielt nun ihre Füße in das kühle Wasser. Sie drang in eine fremde Welt voller unbekannten Dingen ein und schien es nicht zu bemerken. Vor meinem inneren Auge stellte ich mir vor, wie sie langsam tiefer dort hineingezogen und schließlich vom Wasser verschluckt werden würde. So fühlte ich mich. Ich hatte eigentlich nur einen Fuß hineinhalten wollen und war mit voller Wucht hineingefallen. Ohne ein Sicherheitsnetz, welches mich am Grund auffangen würde. Ich war dort aufgetroffen wie auf hartem Beton. Nur dass es sich anfangs angefühlt hatte, als wäre es Watte gewesen. Erst nachdem mir aufgefallen war, dass ich aus dem Schlaf nicht erwacht und mein Prinz noch immer ein Frosch war, bemerkte ich die kleinen Schnittwunden überall.

„Die Vorstellung ist... seltsam", gab ich zu. Ich gestand nicht, dass ich mir gerade die Schnittwunden direkt über meinem Herzen vorstellte. „Ich schätze, man weiß nie worauf man sich einlässt, bevor man es hinter sich gebracht hat."

„Ich denke, du weißt noch immer nicht, worauf du dich eingelassen hast. Die Teilnahme am Casting ist die eine Sache, aber Lyndon zu küssen ist dann doch Level zwei."

„Ich empfinde nichts für ihn", erwiderte ich automatisch, als müsste ich mein Verhalten verteidigen, „Und ich darf küssen, wen ich will."

„Natürlich darfst du das. Du wirkst auf mich nur nicht wie ein Mädchen, welches jemanden küsst, für den sie nichts empfindet."

Ich schwieg und verfolgte mit den Augen eine Libelle kurz über der Wasseroberfläche. Ihre Flügel schillerten in vielen Farben und spiegelten sich im Wasser wider. Ich betrachtete die feinen Linien und einzigartigen Muster. Wenn ihre Flügel vom Wasser benetzt würden, wäre sie dem Untergang geweiht. So viel Schönheit am Abgrund der Klippe.

„Warum sind wir überhaupt hier?", fragte ich nach einer Weile.

Maelle zog die Augenbrauen zusammen, als würde sie die Frage nicht recht verstehen. „Meine Großmutter wünschte, dass wir den Nachmittag gemeinsam verbringen."

Ich schüttelte den Kopf. „Warum sind wir hier? An diesem Ort meine ich. Und warum unterhälst du dich mit mir? Ich dachte, du magst mich nicht einmal besonders."

Blind Selection - never give up 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt