22 Jahre zuvor
„Ich werde mich mit Gadriel verloben."
Sie hatte eine Ewigkeit darüber nachgedacht, wie sie diese Nachricht verpacken sollte. Gab es überhaupt eine richtige Weise, um der Liebe seines Lebens zu sagen, dass man sich mit jemand anderem verloben würde? Wahrscheinlich nicht.
Eamon war gerade dabei, sämtliche Boxen auszumisten und erstarrte in seiner Bewegung. Wilhelmina konnte ihn nur von hinten sehen. Seine breiten Schultern, das dunkle, dichte Haar, welches Mal wieder einen Schnitt vertragen könnte, die derbe Arbeitskleidung. Es war ihr unvorstellbar, wie andere Frauen sich nicht vom ersten Augenblick in diesen Mann verlieben könnten, wo es doch für sie immer nur ihn geben würde.
Im ersten Moment dachte Wilhelmina, er würde sich umdrehen und mit ihr diskutieren. Er würde ihr einreden, Gadriel sei nicht der Richtige für sie. Er würde ihren Arm packen und dabei trotz seiner Kraft mehr seelische als körperliche Schmerzen in ihr auslösen. Doch all das tat er nicht. Er hatte nur für einen Moment innegehalten und fuhr nun mit seiner Arbeit fort. Als wäre Willow nicht einmal einen letzten Blick wert.
Ihr war nach weinen zumute. „Sag doch etwas." Bitte, fügte sie in Gedanken flehend hinzu. Sie brauchte eine Reaktion von ihm. Den Beweis, dass er noch immer an sie glaubte und damit niemals aufhören würde. Doch er drehte sich nicht um, sondern fuhr - wenn auch mit einer extra Portion Energie - fort, die Mistgabel in das Stroh zu stechen.
Gerade wollte sie zu einem erneuten, einem letzten Versuch ansetzen, Eamon dazu zu bringen, sich zu ihr umzudrehen. Doch da wurde sie unterbrochen. „Eamon, bist du-", Fenna unterbrach sich selbst und blickte zwischen Willow und ihrem Bruder hin und her.
Auf ihren Armen trug sie ihr Baby. Ihr wunderschönes, kleines Mädchen. Sie hatte sie Elea getauft. Vor etwa einer Woche war die Festgemeinde in der kleinen Kirche im Dorf versammelt gewesen, um dieses kleine Wesen zu feiern. Willow war nicht unter ihnen gewesen.
„Fenna." Wilhelminas Stimme war nur noch ein Flüstern.
Im Gegensatz zu ihrem Bruder sah Fenna sie an. Ihr Blick zeugte von einer tiefen Enttäuschung, welche Wilhelmina beinahe noch mehr traf, als Eamons Schweigen. Doch auch Fenna drehte sich schnell von ihr weg, als wäre ihr Anblick zu schmerzvoll. „Ich warte draußen", sagte sie an ihren Bruder gewandt und verschwand mit Elea aus den Stallungen.
Sie hatte niemandem von dem Vater erzählt. So sehr Wilhelmina sie auch gedrängt hatte und ihr versprochen hatte, ihr helfen zu können, war Fenna still geblieben. Doch das war es nicht gewesen, was schlussendlich einen Keil zwischen die Freundinnen getrieben hatte. Willow war es gewesen. Sie und ihre Verantwortung, die sie wohl oder übel bald würde übernehmen müssen.
Sie kannte Gadriel nun seit ungefähr 11 Monaten und er hatte sich als Kavalier erwiesen. Er unterstützte sie bei offiziellen Anlässen, gab ihr ihren Freiraum und war bereit, sein gesamtes Leben für das ihre zu opfern. So sehr sie hatte Maeras Rat befolgen wollen, sie hatte es nicht geschafft. Innerlich hatte sie sich immer wieder dafür gescholten, dass sie mehr wollen könnte als die Liebe, die sie für Eamon empfand. Doch sie war nicht Wilhelmina, das Mädchen aus dem Dorf. Sie war eine Trohnerbin und aus diesem Grund würde sie Gadriel wählen.
Tatsächlich hatte sie ihn schon vor langer Zeit gewählt. Nur vier Monate nach ihrem Kennenlernen war Wilhelminas Selection abgesagt worden. Glücklicherweise war die Presse noch nicht offiziell informiert worden und all die prophylaktischen Aufnahmen hatte man in das Archiv verfrachtet. Es war eine riesige Erleichterung und zu gleich eine der größten Entscheidungen ihres Lebens gewesen. Doch Gadriel hatte sie ihr leichter gemacht. Er würde ein herausragender König und Ehemann und eines Tages Vater werden. Dessen war sie sicher.
„Eamon, ich bitte dich. Muss es wirklich so enden?" Sie legte all ihre Zerrissenheit in diese Worte. Sie wollte nicht, dass es endete, doch-
„Es hat schon lange vor diesem Tag geendet."
Und das stimmte. Sie waren beinahe drei Monate lang ein glückliches Paar gewesen. Doch nicht Willow war es gewesen, die die Dinge zwischen ihnen beendet hatte. Sie war es nur gewesen, welche sich anschließend von der Freundesgruppe langsam aber sicher entfernt und sich vollkommen auf ihre Zukunft mit Gadriel konzentriert hatte. Und diese war mit der Trennung von Eamon in Stein gemeißelt gewesen.
„Aber das muss es doch nicht", Willow klammerte sich an jeden Strohhalm, den sie zu fassen bekommen konnte. Sie wollte mit ihm reden. Wollte ihn ansehen. „Wir können weiterhin Freunde bleiben."
Nun hatte Eamon sich umgedreht und er lachte freudlos. „Sei nicht albern. Wir funktionieren nicht als Freunde."
„Du hast dich von mir getrennt", flüsterte Willow erstickt und versuchte verzweifelt, Tränen zu unterdrücken. Warum fühlte sich das hier so verdammt nach einem Abschied für immer an?
Er nickte. „Wir funktionieren auch nicht als Paar." Er sagte das, als sei es ein festgeschriebenes Gesetz. Und doch hatte Willow eine lange Zeit geglaubt, dieses Gesetz existiere nicht.
„Ich werde Gadriel heiraten", wiederholte sie leise. Sie wusste nicht, welche Reaktion sie sich erhoffte. Trauer? Zorn? Jedenfalls nicht die neutrale Miene, welche er aufgesetzt hatte.
„Ich weiß", sagte er rau. Für einen Moment sah sie ihn mit sich ringen und im nächsten sah es so aus, als hätte er den Kampf verloren. Denn er ließ die Mistgabel fallen und trat auf sie zu. Dann umrahmte er ihr Gesicht zärtlich mit beiden Händen und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Sie ließ sich willenlos gegen seine Brust sinken und spürte, wie sie einander die Arme um den Körper schlangen. Sie brauchte diese Nähe. Diese vertraute Wärme. So standen sie da. Sie, die zukünftige Königin von Iléa, mit ihrer ordentlich zurechtgemachten Frisur und dem eleganten Tageskleid, welches wahrscheinlich mehr wert war, als all sein Hab und Gut zusammen. Und er, der Stallbursche, in seiner abgesetzten Arbeitskleidung, den Reitstiefeln und dem Schweiß gemischt mit Dreck auf der Stirn.
Und sie weinte. Weil dies der Abschied war. Weil dies bedeutete, dass sie Gadriel heiraten würde. Und weil sie hiermit ihre Familie verloren hatte. Die Familie, in die sie vor einem Jahr hineingeboren war.
3 Monate später
Sie spürte zwei schlanke Arme, die ihren Bauch von hinten umfassten, und Finger, die ihn sanft streichelten. Es war einer der wenigen Momente der körperlichen Nähe zwischen dem frisch verlobten Paar. Wilhelmina wusste nicht, ob es an ihr lag oder ob es unter Einvernehmen von ihnen beiden so war. Doch in diesem Moment genoss sie die sanften Kreisbewegungen, welche er auf ihrem Bauch zog. Es war die Zuneigung eines Vaters. Und diese würde in ihrem neuen Lebensabschnitt die wichtigste sein.
Sie hob ihren Kopf und lächelte Gadriel an. Sie musste nichts sagen, um zu wissen, dass er sie verstand. Er wusste genau, was sie brauchte. Und im Gegenzug verstand sie, dass sie es nicht war, die er brauchte. Sie konnte es ihm nicht einmal verübeln. Natürlich hatte ihre Traumvorstellung einer Ehe auch die gegenseitige Liebe und körperliche Anziehung vorgesehen. Doch da sie ihm diese nicht entgegenbringen konnte, nahm sie es ihm nicht übel, dass er das gleiche tat. Solange er diskret blieb und dabei keine unehelichen Kinder herauskamen, sollte es Wilhelmina nicht stören.
Und doch wusste sie, dass sie in seinem Leben die erste Stelle einnahm. Sie und ihr Baby. Und das war alles, was für sie zählte.
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Blind Selection - never give up 3
FanfictionKaden. Joas. Lyndon. Decan. Einer von ihnen ist der Kronprinz von Ilea. 35 Mädchen kommen ins Schloss, um genau das herauszufinden. Doch zwischen Verrat, Druck, Schmerz und einer endlosen Suche ist es schwer sich auf das Wesentliche zu konzentrieren...