46 | Sonntagmorgen

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Earline

Ich konnte mich nicht ans Einschlafen erinnern. An den Traum allerdings erinnerte ich mich genau.

Es war ein ruhiger Wintermorgen. Schnee und Frost glitzerten im warmen Sonnenlicht und boten vielen Paaren einen schönen Anblick. Auf den Straßen spazierten die verschiedensten Menschengruppen umher, lachten und genossen die Sonnenstrahlen auf ihren Gesichtern.

Da war mein Vater. Er sah jünger aus. Ich konnte nur einen Seitenblick auf ihn erhaschen, doch sein Haar war voller und sein Gesicht war nicht von so vielen Falten geziert. Die Sorgefalten, die nach Elea Verschwinden dazugekommen waren, fehlten. Eine junge Frau strich ihm über den Arm und lachte ausgelassen, als er sich zu ihr herunterbeugte und etwas ins Ohr flüsterte. Im ersten Moment sah ich sie nur von hinten und ging davon aus, dass es meine Mutter sei. Doch als ich näher an sie herantrat erkannte ich jemand anderen.

Es war Maelle.

Ich schreckte aus meinem Traum hoch und brauchte einen Moment, bis ich mich orientieren konnte. Kopfschüttelnd setzte ich mich auf und begann schief zu grinsen. Das Gespräch mit der Königin von dem gestrigen Tag war mir noch bis zum Einschlafen im Kopf herumgegeistert. Anschließend war Prinzessin Maelle dazugestoßen und den Schrecken musste ich wohl mit in meinen Traum übertragen haben.

Bevor ich realisieren konnte, dass ich mich nicht mehr in meinem alten Zimmer befand, betrat eine zierliche Gestalt mein Zimmer. Sie hatte ihren Kopf gesenkt und huschte ohne etwas zu sagen an mein Fußende, wo noch mein Kleid von dem Vortag lag. Das junge Mädchen nahm es und stellte stattdessen ein Tablett mit einem üppigen Frühstück auf meinen Nachttisch.

„Wo sind Deliah, Mary und Ginger?", fragte ich, während das Mädchen schon wieder auf dem Weg aus dem Zimmer war.

Normalerweise waren die drei die ersten Gesichter, die ich am Morgen sah. Mary brachte mir mein Frühstück, wünschte mir einen guten Morgen und erzählte mir von den neusten Nachrichten. Da wir Ladys keinerlei Kontakt zur Außenwelt haben durften, brachte Mary mich auf den aktuellen Stand. Deliah war währendessen meistens schon im vollkommenen Stress, da sie die Outfits von uns vier Ladys koordinierte und den Tagesplan überblickte. Ginger alberte meistens ein bisschen herum und brachte damit Deliah auf die Palme, aber auf eine liebenswürdige Art und Weise.
Als ich realisierte, dass die drei wohl nicht mehr zu meinem täglichen Programm zählen würden, machte mich das seltsam niedergeschlagen.

Das Mädchen an meinem Bettende war stehen geblieben und blickte mich nur stumm an. Sie antwortete nicht auf meine Frage.

„Hat man dir verboten mit mir zu sprechen?", fragte ich ein wenig verärgert und erhielt erneut keine Antwort. Ich seufzte und gab ihr dann ein Zeichen, dass sie gehen durfte. Mit flinken Schritten verschwand sie aus meinem Zimmer.

Mein Zimmer war es nicht mehr. Als ich mich umsah, wirkte es kalt und unbelebt. Anders als die vier Bereiche meines alten Zimmers, welches ich mit Blair, Bethany und Angelique geteilt hatte. Ich hatte es oft gehasst, nie meine Ruhe zu haben.

Doch in diesem Augenblick kam mir die Stille ohrenbetäubend vor.

Maelle

„Das ist albern. Es sind nicht einmal fünf Minuten nach Hause." Ich lehnte mich an die kalte Steinmauer und lächelte mit verschränkten Armen.

Er erwiderte mein Lächeln und stützte eine Hand neben meinem Kopf ab. „Dann raubt es mir ja nicht viel Zeit, dich nach Hause zu bringen."

Mein Grinsen wurde unwillkürlich breiter, doch ich schüttelte den Kopf. „Ein anderen Mal, in Ordnung?" Ich legte ihm eine Hand auf sie Brust und schob ihn sanft weg während ich unter seinem Arm durch schlüpfte.

„Ich sollte eine junge Dame nicht unbeaufsichtigt mitten in der Nacht nach Hause gehen lassen. Es könnte etwas passieren", widersprach er und runzelte die Stirn.

„Die Sonne ist schon aufgegangen. Es ist schon schlimm genug, dass ich die ganze Nacht weg war. Ich verspreche, dass ich gut auf mich aufpassen kann", erwiderte ich nachdrücklich und blickte in seine grünen Augen.

Einerseits rührte es mich, dass er mich nach Hause bringen wollte. Andererseits durfte er auf keinen Fall wissen, wo ich wohnte. Das würde meine ganze Maske verfallen lassen. Wenn die Zeit gekommen war, würde ich mich offenbaren. Aber für den Moment war es viel zu schön, ein normales Mädchen zu sein.

Für einen Moment sahen wir einander noch an, dann trat ich einen Schritt zurück. „Wir sehen uns bald wieder", sagte ich als eine Art Versprechen an ihn und an mich selbst. Dann drehte ich mich um und machte mich eilig auf den Weg in Richtung Schloss. Die Kapuze des Mantels zog ich mir tief ins Gesicht und drehte mich nur noch einmal um, um sicherzustellen, dass er oder jemand anders mir nicht folgte.

„Ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll", sagte Jensen kopfschüttelnd, als er mich atemlos in seine Richtung stapfen sah.

Jensen war in meinem Alter und hatte in unserer Jugend zusammen mit mir Reit- und Benimmunterricht gehabt. Er war der Sohn von einer der älteren Zofen und sozusagen in das Hofleben hineingeboren worden. Seit ein paar Jahren war er offiziell Teil der königlichen Wache und bewachte in dieser Schicht einen kleineren Eingang im Westteil des Hofes. Er hatte mich nun schon einige Male an einem frühen Morgen reingelassen ohne mich an die Königin zu melden.

„Ich bin dir etwas schuldig", erwiderte ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange, „Du bist der Beste."

Ich hatte Schuldgefühle, als ich auf dem schmalen Sandweg in Richtung Hauptgebäude eilte. Ich flirtete mit ihm und nutzte es aus, dass er mir in Momenten, in denen er sich unbeobachtet fühlte, endlose Blicke zu warf. Und ich fühlte mich schrecklich dabei. Mein kleiner Bruder hatte mich schon häufiger damit aufgezogen, dass Jensen in mich verschossen war.

Aber die Gedanken verflogen, als ich erschrocken zusammenzuckte. „Kaden!"

Kaden lehnte lässig an der Wand und grinste mich schief an. Es sah so aus, als hätte er genau an diesem Ort auf mich gewartet, als hätte er mein Kommen geahnt. „Das wird Königin Gran aber gar nicht gut gefallen."

„Musst du mich so erschrecken?", grummelte ich. In Gedanken legte ich mir schon eine passende Ausrede zurecht, sollte Kaden mich verpfeifen. Die Standardausrede „Ich habe einen Morgenspaziergang gemacht" zog langsam nicht mehr.

Kaden schüttelte den Kopf. „Muss ich nicht, aber es bringt doch so viel Spaß."

Ich seufzte. „Was willst du von mir?"

„Na na na. Ich bin doch kein Unmensch. Ich würde dich niemals erpressen", erwiderte Kaden immer noch mit dem gleichen Grinsen auf den Lippen.

Nein, natürlich nicht.

„Also?"

„Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du meinen Küchendienst übernehmen würdest."

Ich schüttelte den Kopf und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Du bist wirklich unglaublich."

Wir machten uns gemeinsam auf den Weg in Richtung des Familiengemeinschaftsraumes. An jedem Sonntagmorgen frühstückten wir dort zusammen und verbrachten gemeinsam Zeit. Gran legte auf diese Zeit besonders viel Wert. Deswegen wollte niemand zu spät kommen.

„Wetten wir, dass Lynd zehn Minuten zu spät kommt?", meinte Kaden, als wir in den richtigen Korridor einbogen.

Ich lächelte. „Ich tippe 11."

„Kinder!", Gran begrüßte uns mit einem tadelnden Blick, als wir den Raum betraten, „Wir wollten heute bereits um 7:45 Uhr mit dem Essen beginnen. Ihr seid fast zehn Minuten zu spät!"

Lyndon saß bereits am Tisch und grinste uns an. „Ich habe die Wette gewonnen", meinte er in Joas Richtung und zwinkerte mir zu.

Blind Selection - never give up 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt