Earline
Kurz vor seinem Tod, zieht das ganze Leben an einem vorbei, sagen sie.
Man erlebt jede Sekunde des Lebens noch einmal im Schnelldurchlauf, sagen sie.
Einem werden auf einmal die wichtigen Dinge im Leben bewusst, sagen sie.
Dass ich diese Erfahrung nicht machte, war dann wohl ein gutes Zeichen, auch wenn ich es in diesem Moment als kleines empfand.
Erstaunlicherweise blieb ich ruhig, was aber mehr daran lag, dass ich vor Angst gelähmt war und nicht daran, dass mir die hiesige Situation nichts ausmachte. Dass ich mit ihr umging, als wäre es Alltag für mich. Denn das war es ganz bestimmt nicht.
Kennt ihr diese Momente, in denen ihr einfach nicht denken könnt, euch nicht bewegen könnt und einfach in eurer Position verharrt? Ich war in genau diesem Zustand.
„Earline! Earline, Herrgott. Komm jetzt!"
Ich wurde am Arm gepackt und stolperte orientierungslos hinter Angelique her. Es war ja nicht so, als wäre ich tatsächlich gelähmt oder blind. Nur hatte mein Körper anscheinend entschieden gehabt, in eine Schockstarre zu verfallen. Wortwörtlich.
„Wo sind Blair und Bethany?", fragte ich, während ich meiner Freundin durch die endlosen Gänge des Schlosses folgte. Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, wo wir uns in dem Moment befanden. Doch ich vertraute Angel und vor allem darauf, dass sie wahrscheinlich den Plan des Schlosses auswendig kannte.
Angel gab keine Antwort. So zielgerichtet, wie sie durch die langen Korridore lief, hatte sie anscheinend einen bestimmten Ort vor Augen. Ein Ziel. Das beruhigte mich irgendwie. Doch sie antwortete nicht.
„Angel, ich-"
„Das ist im Moment nicht wichtig", fiel sie mir harsch ins Wort. „Wir müssen erst einmal für unsere eigene Sicherheit sorgen."
Ich widersprach nicht. In diesem Moment wäre vermutlich eine heldenhafte Ansprache angebracht, in der ich mir für sie Sicherheit meiner Freundinnen verbürgte und mein eigenes Leben aufs Spiel setzte. Doch im echten Leben ist man nicht immer heldenhaft. Vor allem nicht in Situationen, in denen man um sein eigenes Leben bangt.
Doch mir blieb jegliche Antwort - sei es auch eine nicht heldenhafte gewesen - erspart. Denn direkt vor uns tauchte auf einmal ein Mann auf. Groß, furchteinflößend und vor allem, bewaffnet.
In diesem Moment versuchte ich mich zu konzentrieren. Auf alles um mich herum, meine eigenen Gefühle und meinen Herzschlag. Irgendetwas würde mir doch einen Hinweis darauf geben, dass es gleich um mich geschehen sein würde. Würde der liebe Gott nicht zumindest so freundlich sein, mir vorher ein Zeichen zu schicken, wenn ich draufging, damit ich mich gebührend verabschieden konnte?
Doch vergebens. Sie kamen nicht. Die Bilder, die hätten vor meinem inneren Auge vorbeiströmen sollen. Mein Herz setzte auch nicht einen Schlag aus - im Gegenteil, es schien einen Marathon zu laufen. Beinahe hätte ich über die leichte Enttäuschung, die ich über dieses fehlende Erlebnis spürte, gelacht. Ich würde in wenigen Sekunden sterben und machte mir nur Gedanken darüber, dass man mich angelogen hatte und nicht kurz vor dem Tod sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen sieht.
Diese Gedanken schossen mir innerhalb weniger Augenblicke durch den Kopf und gerade, als vorbei war, lief der Mann einfach weiter.
„Earline!" Wenn Angel genauso irritiert davon war, dass wir gerade nicht gestorben, sondern der Mann - wahrscheinlich ein Rebell - ohne uns groß zu registrieren hatte laufen lassen, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie packte mich am Arm und zerrte mich entschlossen entgegengesetzt der Richtung des Mannes.
DU LIEST GERADE
Blind Selection - never give up 3
FanfictionKaden. Joas. Lyndon. Decan. Einer von ihnen ist der Kronprinz von Ilea. 35 Mädchen kommen ins Schloss, um genau das herauszufinden. Doch zwischen Verrat, Druck, Schmerz und einer endlosen Suche ist es schwer sich auf das Wesentliche zu konzentrieren...