Wilhelmina XXX | die letzte Rettung

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20 Jahre zuvor

Am Morgen nach dem Ball musste Wilhelmina ununterbrochen an Eamon und den Kuss, den die beiden geteilt hatten, denken. Gadriel saß ihr gegenüber an dem breiten Frühstückstisch und blätterte gerade in einigen Unterlagen. Das vermählte Königspaar gab an diesem Morgen alles andere als das Bild eines glücklichen Liebespaares ab. Während die eine an einen anderen Mann dachte, beschäftigte sich der andere ausschließlich mit seiner Arbeit.

Wilhelmina seufzte innerlich. Sie spürte Eamons Lippen auf den ihren, seine Finger auf ihrer nackten Haut. Eine Welle der heißen Begierde überkam sie und sie schlug die Augen nieder. Die vergangene Nacht hatte ihre gesamte, heile Welt auf den Kopf gestellt und alles für sie verändert. Nachdem sie es gerade geschafft hatte, sich mit ihrem neuen Leben und der Aussicht, einmal Königin zu werden, zu arrangieren, hatte die Vergangenheit sie doch eingeholt. Ihre heftigen Gefühle, die sie für Eamon einmal empfunden hatte und die sie ehrlicherweise niemals losgelassen hatte, waren nun präsenter denn je.

Gadriel legte seine Unterlagen bei Seite und bedachte seine Ehefrau mit einem prüfenden Blick. „Hattest du gestern einen schönen Abend?", fragte er mit einem Tonfall, welcher offenbar interessiert klingen sollte.

Wilhelmina hob die Augen von ihrem unberührten Teller, doch hätte sie beinahe wieder niedergeschlagen, als sie seinen Blick traf. Sie fühlte sich schrecklich, hier mit ihm zu sitzen, während sie nur an Eamon denken konnte. „Ja, es war sehr nett", sagte sie tonlos.

„Ich habe dich gegen Ende vermisst", fuhr er fort. Wilhelmina schluckte. Sie hatte gehofft, dass Gadriel unter Alkoholeinfluss und der Aufmerksamkeit einiger hübscher Damen ihre Abwesenheit nicht aufgefallen war.

Sie setzte ein falsches Lächeln auf. „Ich brauchte etwas frische Luft."

Gadriel nickte und schwieg dann. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. Für einen Moment stieg die Angst in ihr auf, er könne etwas von Eamon und ihr mitbekommen haben und würde sie nun damit konfrontieren. Doch stattdessen erhob er sich, umrundete den Tisch und setzte sich direkt neben sie.

Sie starrte ihn regungslos an, während ihre Gedanken rasten.

„Wilhelmina", sagte er nun ruhig, aber bestimmt. Sie erkannte in seiner Miene eine Entschlossenheit, die ihn stets beherrschte, wenn er etwas Geschäftliches besprach. „Mir ist gestern Abend etwas klar geworden."

Sie rutschte unruhig auf ihrem Platz etwas von ihm ab. „Was ist dir klar geworden?", fragte sie. Der Ton ihrer Stimme klang härter, als sie ihn beabsichtigt hatte.

„Ich denke, dass wir bereit sind", erklärte er, „Wir sind bereit dafür, endlich unsere Verantwortung anzunehmen."

Wilhelmina zuckte zusammen. Sie wusste sofort, wovon er sprach und fühlte eine dumpfe Beklommenheit in sich aufsteigen. „Wovon sprichst du, Gadriel?", fragte sie dennoch. Nun war die Härte in ihrer Stimme beabsichtigt.

Doch Gadriel ließ sich nicht verunsichern, sondern ergriff fest ihre Hand. „Ich weiß, dass wir gemeinsam wundersame Dinge vollbringen können."

„Gadriel", sagte sie warnend und entzog ihm seine Hand. Neben der Beklommenheit überkam sie Traurigkeit. „Nicht", sagte sie leise in einem beinahe flehenden Ton.

„Warum nicht?", fragte Gadriel. Seine schmeichelhafte Stimme verhärtete sich nun ebenfalls. „Warum sträubst du dich so sehr dagegen, Wilhelmina? Es ist unsere Bestimmung."

Sie schüttelte den Kopf, während der Kloß in meinem Hals wuchs. Sie war sich sicher, dass sie in Tränen ausbrechen würde, würde sie ein weiteres Wort sagen.

Frustriert seufzend erhob sich Gadriel und fuhr sich über das Gesicht. „Verdammt, Wilhelmina", zischte er leise. Er wandte sich für einen Moment von ihr ab, sodass sie sich sammeln konnte.

Sie atmete tief durch und versuchte, Fassung zu wahren. „Du weißt nicht, wovon du sprichst, Gadriel", sagte sie ruhig.

Er fuhr herum und blitzte sie aus Augen an, die voller Leidenschaft und Ärger sprühten. „Das weiß ich sehr wohl!", fuhr er sie an, „Warum bist du so verdammt stur?"

Wilhelmina straffte die Schultern. Es traf sie noch immer tief, dass Gadriel sich so verhielt, doch sie schaffte es, diese Gefühle bei Seite zu schieben. „Wir haben mehrmals darüber gesprochen, Gadriel. Ich bin noch nicht bereit, Königin zu werden. Du musst diese Entscheidung respektieren."

„Es geht hier aber nicht nur um dich!", fauchte Gadriel. Er war nun so in Rage, dass Wilhelmina beinahe angstvoll zurückgezuckt wäre. Doch sie bemühte sich darum, ihm entschlossen entgegenzutreten.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, offensichtlich nicht", erwiderte sie ruhig, „Dir geht es ausschließlich um dich selbst."

Gadriel lachte humorlos. „Hör doch auf. Jetzt versuchst du die Situation mal wieder so zu drehen, dass ich wie der Böse dargestellt werde. Dabei bist du die Egoistische von uns beiden."

Wilhelmina wollte widersprechen und sich auf das Streitgespräch einlassen, doch sie besann sich eines Besseren. „Ich erwarte von dir als mein Ehemann, dass du meine Entscheidung akzeptierst und mich darin unterstützt."

„So wird es immer sein, nicht wahr?", fragte Gadriel verächtlich, „Ich muss immer Rücksicht nehmen. Wenn wir ehrlich sind, ist das hier keine Ehe. Es ist eine Monarchie."

„Du wusstest, worauf du dich einlässt, Gadriel", sagte sie leise.

Er lachte erneut. „Oh nein, das wusste ich nicht. Ich habe geheiratet, um König zu werden. Und wohin hat mich das gebracht? Meine Frau plant nicht, in naher Zukunft Anspruch auf den Trohn zu erheben."

Sie starrte ihn entgeistert an.

Gadriel, der sich seiner Worte bewusst wurde, ließ sofort Reue in seine Miene gleiten. „Willow-"

Wilhelmina erhob sich und hob die Hand, wodurch er verstummte. Sie spürte, Tränen in ihren Augen aufsteigen, doch blinzelte sie zurück. „Sag nichts mehr." Ihre Stimme brach und mit ihr auch etwas in ihrem Inneren.

In diesem Augenblick, als Wilhelmina ihren Ehemann ansah und den feurigen Ausdruck in seinen Augen sah, erkannte sie, dass sie nur ein Mittel zum Zweck war, erkannte, dass blinde Ehrsucht sein stetiger Antrieb zum Handeln war, erkannte, dass sie ihn niemals würde ändern oder aufhalten können.

In diesem Augenblick entschloss sich Wilhelmina, alles dafür zu tun, um ihre Tochter und ihren ungeborenen Sohn vor ihrem Vater zu retten. Sie entschloss sich, ihr Land vor einem ehrsüchtigen und habgierigen Mann zu retten, der im Begriff war es zu regieren.

Und sie beschloss auch, sich selbst vor ihm zu retten.





Blind Selection - never give up 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt