Wilhelmina XXXII | auf der Flucht

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19 Jahre zuvor

Wilhelmina stolperte durch den von der Abendsonne durchleuchteten Wald. Sie konnte es noch immer nicht glauben, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, den sicheren Mauern des Palastes zu entfliehen. Andererseits waren die Schutzmaßnahmen der Königsfamilie natürlich vorrangig darauf ausgelegt, dass niemand hinein gelangte, und nicht, dass niemand hinaus kam. Dennoch hatte sie tief in ihrem Inneren nicht zu hoffen gewagt, dass die Flucht ihr tatsächlich gelingen würde. Und genau deswegen hatte ihr Plan nicht beinhaltet, was sie in diesem Fall als nächstes tun würde. Sie war schließlich eine Kronprinzessin und keine gelernte Verbrecherin, die Pläne schmieden konnte.

Also war ihr Ziel zunächst einmal gewesen, so weit wie möglich von dem Schlossgelände wegzukommen. Sie trug einen Mantel mit einer Kapuze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte, und war durch ihre schlichte Kleidung dadurch beinahe nicht wiederzuerkennen. Natürlich vermuteten sie außerdem alle Leute auf dem Empfang der Königsfamilie. Deswegen war es ihr gelungen, unerkannt durch das Dorf und dann in den anliegenden Wald zu gelangen.

Doch nun, da sie seit einer gefühlten Ewigkeit unterwegs war, wurde der Gedanke immer attraktiver, einfach wieder umzukehren. Was hatte sie sich eigentlich bei dem Ganzen gedacht? Sie hatte überhaupt keinen Plan, was sie nun tun würde. Außerdem war es herzlich unrealistisch, dass sie für mehr als ein paar Tage unerkannt bleiben würde. Früher oder später würde sie sich allerdings wieder unter Menschen begeben müssen. Allein im Wald würde sie auf keinen Fall überleben können.

Sie schüttelte energisch den Kopf. Irgendwie würde sie es schon schaffen, sie musste es schaffen. Schließlich hatte sie ihre sichere Mauern nicht ohne Grund hinter sich gelassen. Tränen drohten in ihren Augen aufzusteigen, als sie an ihre Kinder dachte. Ihr kleiner Sohn würde niemals wissen, wie es war, mit einer Mutter aufzuwachsen. Und auch Maelle würde es irgendwann vergessen, wie sie ihr die Haare gebürstet hatte, wie sie ihr Geschichten vorgelesen hatte, wenn sie nicht schlafen konnte, und wie sie sie angesehen hatte, als wäre sie das wunderbarste Wesen auf der gesamten Welt.

„Fang jetzt, verdammt noch mal, nicht an zu heulen", ermahnte sie sich selbst und lachte aufgrund der derben Wortwahl auf. Im Palast hätte sie jetzt mit einigen erschrockenen Blicken rechnen müssen, doch hier im Wald stand sie nicht länger unter Beobachtung. Es war ein ungewohntes und zugleich befreiendes Gefühl.

Doch der Palast brachte nicht nur die Einschränkung ihrer Freiheit, sondern auch gleichzeitig Schutz und Sicherheit mit sich. Wilhelmina war noch nie allein gewesen - nicht wirklich. Seit sie geboren worden war, waren Wachleute ihr auf einigen Abstand überall hin gefolgt. Sie hatte sich so sehr an ihre Schatten gewöhnt, dass es ihr gar nicht mehr aufgefallen war. Doch ihr Fehlen bemerkte sie nun umso deutlicher. Sie fühlte sich schutzlos und irgendwie allem ausgesetzt.

Jedes Knacken und jedes Knistern ließ sie aufhorchen und sie sah sich hektisch um. Gab es wilde Tiere in diesem Wald? Sie wusste nur, dass ihr Vater vor einigen Jahren mit dem hiesigen Förster Beschlüsse gegen Wilderer verfasst hatte, um die Waldtiere zu schützen. Aber handelte es sich dabei um ein paar Eichhörnchen und Rehe oder waren gar Wölfe oder Bären in dieser Gegend? Ihre Lehrer hatten stets behauptet, Wilhelmina würde die beste Bildung bekommen, die nur möglich war. Doch über ihren eigenen Wald wusste sie beinahe nichts.

Sie zwang sich, all diese Zweifel und Sorgen beiseite zu schieben und sich auf die Dinge zu konzentrieren, die sie wusste. Die Dämmerung würde in weniger als einer halben Stunde einbrechen und sie brauchte einen Platz für die Nacht. Eamon hatte ihr einmal etwas von einer Jagdhütte im Wald erzählt, die seinem Vater gehört hatte. Doch sie war nie dort gewesen und hatte mittlerweile vollkommen die Orientierung verloren. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als Ausschau nach einem Unterschlupf zu halten und zu beten.

Erneut raschelte es verdächtig hinter ihr und Wilhelmina riss den Kopf herum. Sie sah gerade noch ein Eichhörnchen einen Baum hinaufklettern. Lächelnd verdrehte sie über ihre eigene Paranoia die Augen und wandte sich wieder um, als sie erschrocken zurückzuckte. Vor ihr stand ein Mann. Sie hatte ihn nicht kommen hören und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

Der Mann musterte sie eingehend. Er war groß und breit gebaut, sein dunkler Bart und die grimmigen Falten zwischen den Augenbrauen ließen ihn bedrohlich wirken. Wilhelmina konnte nicht genau ausmachen, ob es Narben oder Schmutz war, was sein Gesicht zeichnete. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen und hielt deswegen ihren Kopf in ängstlicher Erwartung gesenkt. Es würde verhehrende Folgen haben, wenn der Mann sie erkannte - die Kronprinzessin in schlichten Kleidern im dunkelwerdenden Wald.

Doch an die schlimmere Möglichkeit wollte sie gar nicht denken. Die Finger des älteren Mannes spannten sich um den dolchartigen Gegenstand in seiner Hand an und Wilhelmina lief ein Schauer über den Rücken.

„Es ist deine Entscheidung, Mädchen. Entweder du kommst still mit oder ich sorge dafür, dass du still bleibst."

Blind Selection - never give up 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt