Lyndon
Der schwarze Sarg wurde langsam von sechs schwarzgekleideten Männern in das ausgehobene Grab hinabgelassen, während das gesamte Land für eine Minute in Schweigen verfiel. Von Tränen der Trauer und Wut ausgetrocknete Augen beobachteten, wie eine Schaufel Erde um die andere den Sarg verschwinden ließ.
„Seltsam, nicht? Seit der Geburt wissen wir, dass der Tod einmal kommen wird. Und dennoch scheint er uns nie gerecht zu sein." Decan blickte mit Miene
Kaden schnaubte leise. „Mir kommt es eher seltsam vor, wie viele Leute ihn auf einmal gekannt zu haben meinen. Nicht einmal uns hat er seine tiefsten Geheimnisse erzählt."
Joas hat bis zum Schluss sein tiefstes Inneres verborgen, das wussten wir drei. Gerade in den letzten Wochen war er immer verschlossener gewesen und hatte sich von uns zurückgezogen. Da wir aber alle mit unseren eigenen Problemen beschäftigt gewesen waren, hatten wir nicht bemerkt, wie er uns langsam entglitten war.
Und nun war es zu spät. Joas war tot. Er war von einer Kugel am Hals getroffen worden und beinahe sofort gestorben. Alle Hilfe war zu spät gewesen.
Ich blickte schweigend auf den beinahe verschwundenen Sarg. Die Beerdigung fand im engsten Kreis statt, doch vor den äußeren Mauern des Palastes hatte sich eine Schar an Reportern versammelt, die scheinbar vom Ort des Geschehens berichteten. Einerseits war es rührend so viele Beileidsbekundigungen zu erhalten, andererseits hatte Kaden in dem Recht, dass nicht alle von ihnen ehrlich schienen.
Ich wandte meinen Blick ab. Decan und Kaden waren in den letzten Tagen meine Stützen gewesen. Nur sie wussten wirklich, wie ich mich fühlte. Joas war nicht nur ein Freund, sondern ein Bruder für uns gewesen. Ein Bruder, der manchmal nervig und anstrengend gewesen war. Aber eben einer, den wir aus tiefstem Herzen geliebt hatten und mit dem wir aufgewachsen waren. Wir fühlten uns ohne ihn nicht mehr komplett an.
„McKenna hat Therapeuten bestellt, mit denen wir sprechen können, falls wir wollen. Sie meinte, dass es gesund sei, über Trauer zu sprechen und sie nicht zu unterdrücken", erzählte Decan. Er klang nicht so, als hätte er ihr Angebot freudestrahlend angenommen.
„Ja, das klingt ganz nach McKenna", meinte ich bitter.
Der Trauredner erhielt nun wieder das Wort, nachdem der Sarg endgültig im Boden versenkt worden war, und sprach noch einige segnende Worte. Schließlich löste sich die Trauergesellschaft langsam auf. Während ein paar Menschen noch zum Grab traten, etwas darauf platzierten oder leise etwas murmelten, entfernten sich andere vom Ort.
Ich kannte nicht alle, aber doch die meisten. Unter einer kleinen Gruppe erkannte ich zwei von Joas alten Schulfreunden. Er war vier Jahre in eine staatliche Grundschule gegangen, bevor er mit uns anderen im Palast unterrichtet worden war. Er hatte über die Jahre nicht mit vielen Kontakt gehalten, doch umso mehr freute ich mich, die beiden zu sehen. Ich nickte ihnen zu und sie erwiderten den Gruß mit einem traurigen Lächeln.
„Wir sollten zumindest eine halbe Stunde mit in den Empfangssalon gehen", befand Decan, „Man wird uns dort erwarten."
Wir wussten, dass er Recht hatte, auch wenn uns überhaupt nicht danach zu Mute war, fröhliche Geschichten über unseren verstorbenen Bruder auszutauschen und in Erinnerungen zu schwelgen. Kaden legte mir eine Hand auf die Schulter und gemeinsam folgten wir dem langsamen Umzug nach drinnen.
„Ich fasse es nicht, dass wir uns nicht haben verabschieden können", sagte Kaden und er starrte zu Boden, „Es fühlt sich so verdammt falsch an."
Ich nickte. Nichts an alledem fühlte sich richtig an. Ich hatte das Gefühl, in einem tagelang anhaltenden Alptraum gefangen zu sein, aus dem ich nicht erwachen konnte. Es durfte einfach nicht sein. Doch der Anblick seines Sargs hatte die vergangenen Tage mit Gewalt real gemacht.
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Blind Selection - never give up 3
FanfictionKaden. Joas. Lyndon. Decan. Einer von ihnen ist der Kronprinz von Ilea. 35 Mädchen kommen ins Schloss, um genau das herauszufinden. Doch zwischen Verrat, Druck, Schmerz und einer endlosen Suche ist es schwer sich auf das Wesentliche zu konzentrieren...