Jerusalem, Herbst 58 vor Christus.
Es war der letzte Abend des Sukkot-Festes. Jonathan und sein Vater Schlomo befanden sich in dessen Gemach und ließen sich von den Dienern für die Roschana-Rabba-Prozession ankleiden. Etwas abseits stand sein jüngerer Bruder Daniel und beobachtete die beiden Männer ehrfurchtsvoll. Jonathan wusste, wie gerne der Kleine ihn und den Vater beim heutigen Fest in den Tempel begleitet hätte. Doch er war erst elf Jahre alt und würde nicht vor dem nächsten Frühjahr in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen werden. Seine Torah-Texte konnte er allerdings schon lange auswendig. Jonathan musste innerlich schmunzeln. Wie verschieden wir doch sind, dachte er und warf Daniel aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Während er selbst sich als Junge am liebsten in den Stallungen bei den Pferden und Kamelen aufgehalten oder sich mit seinen Freunden im Fechten geübt hatte und vom Vater nur mit Drohungen und Schlägen zum Lernen ins Haus getrieben werden konnte, liebte sein kleiner Bruder nichts mehr, als die Torah zu studieren oder dem Vater zuzuhören, wenn er sie auslegte.
„Pass doch auf, Jetur!" schimpfte Schlomo. „Siehst du nicht, dass der Stoff Falten wirft?"
„Verzeiht mir, Herr", stammelte der Diener verlegen und senkte seinen Kopf noch mehr, als er es schon zuvor getan hatte. Jonathan ärgerte sich. Er hasste es, wenn sich sein Vater herrisch gab. Gewiss er war ein angesehener Priester, vermögend und von großem politischem wie religiösem Einfluss, während Jetur in der Hierarchie ganz unten stand, nur wenig besser gestellt als ein Taglöhner oder Sklave. Aber war es nicht gerade der Gott, den Priester wie sein Vater predigten, der dazu ermahnte, die Schwachen zu trösten? Außerdem mochte er Jetur und es tat ihm weh, wenn er sah, wie der Knecht vor seinem Herren stand, voller Demut, bereit alles auszuführen, was man ihn heißen würde, und wie er doch mit nichts als Ungeduld und Ärger belohnt wurde. Jonathan kannte ihn seit der frühen Kindheit. Manchmal wenn Jetur seine Arbeit schneller beendet hatte und wenn es der Kohen vor allem nicht sehen konnte, hatten sie miteinander gespielt, und es war Jonathans geheime Freude gewesen, dem anderen Jungen nach und nach die Angst zu nehmen und zu spüren, wie er langsam Vertrauen zu ihm fasste.
Jetur hatte inzwischen den festlichen Gurt geholt, den die Priester nur zu besonderen Anlässen trugen. Es war ein Erbstück, aus violettem Karmesinstoff und gezwirntem Byssus gefertigt, mit Gold und rotem Purpur bestickt. Der Diener trug den Gurt vorsichtig auf den ausgestreckten Händen, ganz so als gebe es nichts Heiligeres unter der Sonne. Als er ihn seinem Herrn umlegte, hatte Jonathan einen Moment den Eindruck, Jetur hätte sogar zu atmen aufgehört, um nur ja nichts zu tun, was Schlomos Missfallen hätte erregen können. Und doch tat er es. Denn der Gurt hatte nicht die exakt richtige Höhe, ein Stück Stoff war umgebogen, so schien es.
„Pass doch endlich auf!" herrschte Schlomo seinen Knecht an und an dessen Vater gerichtet, der gerade damit beschäftigt war, den Turban festzustecken: „Dein Sohn, Asarja, taugt zu nichts. Möchte wissen, wozu ich ihn all die Jahre durchgefüttert habe."
Jonathan sah, wie Jetur unter den Worten seines Herrn zusammenzuckte. „Keiner ist vollkommen außer Gott allein", sagte er deshalb mit einem harten Unterton, von dem er hoffte, dass er den Vater ärgern würde.
„Gewiss", antwortete der sofort, doch seine Stimme war ohne Ausdruck und gab keine Auskunft darüber, wie er die Worte seines Sohnes aufgenommen hatte. „Aber ein guter Mensch tut alles mit Bedacht. Du zitterst, Jetur. Verbirgst du mir etwas?" erkundigte er sich streng.
„Nein, Herr", antwortete Jetur bittend. Jonathan wandte sich ihm zu und sah, dass die Hände des Dieners tatsächlich zitterten, während er mittlerweile begonnen hatte, die bestickten Bordüren des Obergewandes in der richtigen Position zu fixieren. Obwohl sein Gesicht braun gebrannt war, konnte man sehen, dass ihm die Röte in die Wangen gestiegen war, auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen.
„Komm zu mir", sagte Jonathan freundlich und Jetur folgte fast dankbar seiner Aufforderung. „Schau mir in die Augen." Wieder tat der Diener, was ihm befohlen worden war, sein Blick war unglücklich, bat um Verzeihung. Jonathan legte Jetur eine Hand ins Genick. „Du glühst ja", stellte er trocken fest und an seinen Vater gerichtet: „Er ist krank, es ist also kein Wunder, wenn er seine Arbeit nicht so gut verrichtet wie sonst. Er soll sich hinlegen und uns einen anderen Diener schicken."
„Also schön", willigte Schlomo ungeduldig ein. „Du hast den jungen Herrn gehört. Geh und schick uns einen anderen Diener. Für wichtige Aufgaben bist du anscheinend nicht zu gebrauchen."
„Ich danke euch, mein Herr", erwiderte Jetur schnell, verbeugte sich tief vor dem Kohen und verließ eilig den Raum. Sehr krank wirkt er nicht, dachte Jonathan und wunderte sich ein wenig, dass sein Vater so leicht zu überzeugen gewesen war. Doch dass Jetur heute besonders angespannt war, mochte freilich wahr sein. Im Unterschied zu Schlomo aber kannte Jonathan den wahren Grund.
„Darf ich euch etwas fragen, Vater?" hörte er da Daniels feine Stimme.
„Natürlich, mein Liebling", antwortete Schlomo merklich sanfter. Erleichtert atmete Jonathan aus. Wenn Daniel begann, sich die Schrift erklären zu lassen, würde sich die Laune des Alten schnell bessern. Außerdem war es Jonathan zumindest bis auf weiteres gelungen, den unglücklichen Diener vor dem Zorn seines Herrn in Sicherheit zu bringen. Und tatsächlich: Mit Daniel als leidenschaftlichem Zuhörer wurde der Vater um einiges milder und die Ankleidezeremonie verlief überraschend reibungslos. Während Asarja die letzten Stoffflinsen von der Kleidung seines Herrn bürstete, kam Daniel auf Schlomo zu, nahm seine Hände und küsste sie. „Ach, wenn ich nur mit euch kommen könnte", seufzte er.
„Es wird mir eine große Freude sein, wenn es soweit ist", erwiderte Schlomo liebevoll und Jonathan wusste, dass es wirklich so war. Zwischen den beiden war eine Nähe, wie er sie zu seinem Vater nie hatte empfinden können. Umso mehr war er dankbar für Daniel. Denn jedes Mal, wenn er seinen kleinen Bruder mit dem Vater zusammen sah, spürte er, wie das Gewicht auf seinen Schultern leichter wurde, die Last, die es bedeutete, den Vorstellungen eines so wichtigen Mannes zu entsprechen.
„Du passt inzwischen auf die Frauen auf, hm?" verabschiedete er sich scherzend von dem Kleinen, der allerdings nur traurig nickte. Seine klugen Augen folgten sehnsüchtig jeder einzelnen Handbewegung, die Schlomo und Jonathan ausführten, um sich auf die Liturgie vorzubereiten. Daniel war so zart, dass es nur dank dem Einfluss des Vaters gelingen würde, ihn schon im Frühjahr in den Tempeldienst einzuführen. Denn neben der Kenntnis der Torah wurde zur Zulassung für den Initiationsritus vor allem körperliche Reife gefordert, sollte der Knabe doch in den Zustand des Gadol, eines Erwachsenen, übergehen.
„Keine Dummheiten", rief Jonathan Daniel noch mit gespielter Strenge zu, als er schon in der Tür stand, denn er hoffte, dass er dem Kleinen doch noch ein winziges Lächeln entlocken würde können.
„Das brauchst du ihm nicht zu sagen", erwiderte Schlomo, der die Ironie offensichtlich nicht bemerkt hatte, mit einem vorwurfsvollen Unterton. Es klang fast so, als wollte er seinen Erstgeborenen dafür tadeln, dass man ihn immer hatte ermahnen müssen. Überhaupt war der Vater mit Jonathan viel strenger. Und das ist auch gut so, dachte Jonathan. Denn wenn man Daniel betrachtete, musste man Angst haben, sein feingliedriger Körper würde schon unter einem bösen Wort Schaden nehmen.
„Seid gegrüßt!" rief ihnen der Junge nach, der trotz seinem Unglück nicht vergessen hatte, sich angemessen von Vater und Bruder zu verabschieden. Es lag kein Trotz in seinen Worten, nur das tiefe Bedauern von einem, der die Dinge hinnimmt, wie sie sind. Die Dinge hinnehmen, wie sie sind, sagte sich Jonathan, während er mit würdigem Schritt neben dem Vater durch die vollen Gassen ging. Von allen Seiten kamen festlich gekleidete Juden, respektvoll grüßten sie den Kohen, und wenngleich das Gedränge immer größer wurde, je näher sie dem Siloach-Teich kamen, schritten Schlomo und Jonathan doch ungehindert aus, denn die Menge hielt um sie herum einen großzügigen Respektabstand. Schlomo nahm diese und andere Ehrerbietungen selbstverständlich hin. Er war der Geburt nach von hohem priesterlichem Adel und war es gewohnt, dass sich die Menschen um ihn herumerniedrigten und voller Respekt zu ihm aufsahen. Jonathan dagegen hatte die Unterwürfigkeit der einfachen Leute immer ein gewisses Unbehagen bereitet. Sie war eines der Dinge, die er nicht hinnehmen wollte. Wie so vieles anderes auch: Die Eitelkeit der Priester, die den Willen Gottes predigten, aber selbst nur nach Reichtum und Vorteilen strebten. Die Präsenz der Römer, die sich als Herrscher über ein Volk aufspielten, das gelobt hatte, Gott allein zu gehorchen. Die alltägliche Willkür, der die Menschen ausgesetzt waren. Gräueltaten wie die bei Adasa. Die Erinnerung an die Strafexpedition der Römer war Jonathan wie ein Stich ins Herz.
DU LIEST GERADE
Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...