Rom, Herbst 57
„Komm! Schnell!", laut und eigenartig verzerrt hallten Schimons Worte über dem Schlachtfeld wieder. Jonathan wollte laufen, doch der Boden war mit Leichen bedeckt. Überhaupt gelang es ihm nicht, seine Füße zu bewegen, es war, als wären sie festgewachsen. Die Erde war weich und als er den Blick nach unten richtete, sah er, dass seine Beine bereits bis zu den Knien in einer eigenartigen Mischung aus Sand und Blut eingesunken waren. Etwa hundert Schritte weiter vorne war der Maskil, durch eine gewaltige Kluft von ihm getrennt. Sein Gesicht war wie das eines Toten. Jonathan starrte ihn an. Plötzlich war der Maskil nicht mehr allein. Neben ihm stand eine junge, zarte Frau, mit einer weißen Tunika bekleidet und einem Myrtenzweig in der Hand. Die langen schwarzen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. Sie fasste den Lehrer am Arm und ging gemeinsam mit ihm fort. Jonathan wollte ihnen nachrennen, aber seine Beine waren immer noch gefangen und auch der Graben zwischen ihnen wurde immer breiter. „Tabitha, Tabitha!", schrie er, so laut er nur konnte, und im selben Moment wurde er wach.
Ruckartig setzte sich Jonathan im Bett auf. Er war schweißgebadet, hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Der Raum war hell und dabei nichts sagend. Es dauerte eine Weile, bis sich Jonathan zurechtgefunden hatte. Ich bin in Rom, sagte er sich schließlich und ließ seinen Blick zum Fenster gleiten, wo er auf der Unterseite der Fensterbank für jeden Tag seit seiner Ankunft eine kleine Kerbe gemacht hatte. Jonathan brauchte die Kerben nicht zu zählen um zu wissen, dass es 332 waren. Lustlos stand er auf und zog sein verschwitztes Unterkleid aus.
Anfangs hatte er noch versucht, sich an der guten Aussicht zu erfreuen, die er von seinem Zimmer aus hatte. Denn das Haus seines Onkels war auf dem Aventin, einem der sieben Hügel Roms, gebaut. Etwas weiter unterhalb lag eine Parkanlage, und wenn man dem Lauf der gepflasterten Straße folgte, konnte man die kunstvollen Verzierungen am Dach des Theatergebäudes erkennen, gleich daneben die hölzernen Tribünen der großen Arena, wo die Pferderennen stattfanden. Am Fuße des gegenüberliegenden Hügels, dem Palatin, waren ohne eine ersichtliche Ordnung Häuser gebaut worden, die so genannten Insulae. Häuser, wie sie Jonathan noch nie zuvor gesehen hatte, manche von ihnen waren fünf Stockwerke hoch. Von Zeit zu Zeit stürzte eines von ihnen ein, begrub die Menschen unter seinen Trümmern. Jonathan griff nach einer Kanne, die offensichtlich erst vor kurzem mit frischem Wasser gefüllt worden war. Er ließ das Wasser über seine Hände rinnen und begann sich zu waschen.
Nein, er wollte nicht aus dem Fenster sehen. Nicht an diesem Morgen. Er wollte sich nicht von den kahlen Bäumen daran erinnern lassen, dass es bald Winter werden würde, der zweite Winter schon, den er gezwungen war, in einer Stadt zu verbringen, die er jeden Tag als noch abstoßender erlebte. Er wollte weder die Insulae sehen und sich fragen, welches Gebäude als nächstes den armen Menschen dort draußen zum Grab werden würde. Und er wollte auch nicht die Paläste auf dem Palatin oder die Heiligtümer auf dem Esquilin sehen, noch weniger den riesenhaften Tempel auf dem Kapitol, der den Hauptgottheiten der Römer geweiht war, Jupiter, seiner Frau Juno und Minerva. Überhaupt war die Stadt voller Heiligtümer, die meisten waren prächtig, mit Altären und Brunnen ausgestattet, manch andere dagegen verlassen und baufällig. Götter haben sie mehr als genug, überlegte Jonathan verächtlich und dachte dabei sehnsüchtig an sein eigenes Haus in Jerusalem, von dessen Garten aus er das Dach des Tempels sehen konnte, des Tempels von Jerusalem, der dem einen wahren Gottes geweiht war.
„Jonathan?" hörte er da die freundliche Stimme einer alten Frau rufen. „Jonathan bist du wach?"
„Ja", antwortete er schnell. „Ich ziehe mich an, dann komme ich hinunter." Er hörte Schritte auf der Holztreppe, kurz vor seinem Zimmer verstummten sie. Dafür waren Hannas Worte jetzt deutlicher zu vernehmen.
„Wie geht es dir, Junge?" fragte sie durch die geschlossene Tür hindurch. „Ich habe gehört, dass du geschrien hast. Plagen dich immer noch deine Albträume?"
„Ja, aber es ist nicht so schlimm", log er, zog sich die Tunika über und öffnete die Tür einen Spalt breit. „Keine Nachrichten aus Jerusalem?" erkundigte er sich und Hanna schüttelte stumm den Kopf.
„Es ist bald Winter", erwiderte sie etwas verzögert. Jonathan nickte. „Und kaum ein Schiff wagt noch den Weg über das Meer, ich weiß", ergänzte er tonlos.
„Einen Moment noch", sagte er beinahe bittend. „Ich bin gleich so weit." Dann zog er die Tür wieder zu und ließ sich erschöpft auf sein Bett nieder. Der Tag hatte noch kaum begonnen und Jonathan hatte bereits das Gefühl, seine ganze Kraft verbraucht zu haben. Dazu kamen die Namen und Gesichter, die sich andauernd in seinem Kopf drehten. Tabitha, Silas, Jetur, an ihnen allen hatte er sich schuldig gemacht. Und das war noch nicht alles.
Einmal mehr musste Jonathan an die Reise nach Rom denken. Er war von Jerusalem bis zu einem kleinen judäischen Hafen in der Nähe von Dor gebracht worden und von dort mit dem Schiff über einige griechische Insel bis Brundisium gesegelt. Dann hatte ihn eine Gruppe von jüdischen Händlern, die orientalische Waren, kunstvolle Vasen aus Keramik, aber vor allem Seifen und Balsam mit sich führten, zu Fuß weiter nach Norden gebracht. Vater hatte wie immer alles perfekt geplant, sagte sich Jonathan einmal mehr voller Sarkasmus. Alles, außer einer einzigen, nicht ganz unwichtigen Sache. Denn neben getrockneten Früchten, hartem Brot und säuerlichem, stark verdünntem Wein gab man ihm auch Fleisch zu essen, von dem Jonathan weder wusste, um was für eine Tierart es sich handelte, noch ob die Schlachtung korrekt nach den rituellen Vorschriften der Juden erfolgt war.
Jonathan hatte von dem Fleisch gegessen und seit damals ließ ihn die Vorstellung nicht los, dass er sich gegen Gott versündigt hatte und der ihn für seinen Frevel bestrafen würde. Er dachte an seinen Vater und wusste, wie dessen Antwort ausfallen würde. Einmal, als er gemeinsam mit Silas in einer kleinen Siedlung am Toten Meer an einer Unterrichtswoche für Priestersöhne teilgenommen hatte, war ihm ein Heuschreckennest aufgefallen. Am Abend, als die beiden Schriftgelehrten endlich müde geworden waren, die Kinder mit ihren langweiligen Predigten zu plagen, waren Silas und er zu dem Nest gelaufen. Sie hatten Stöcke zugeschnitten und mit dem Honig beschmiert, den Jonathan zuvor noch aus der Küche gestohlen hatte, die Heuschrecken aufgespießt und sie über einem kleinen Feuer gebraten. Nach kurzer Zeit waren die Flügel vollständig versengt, die Insekten innen weich, außen süßlich knusprig, eine Köstlichkeit. Doch sie waren nicht lange ungestört geblieben. Einer der Schriftgelehrten, Nathan, hatte sie auf frischer Tat ertappt und mit Fußtritten zurück ins Lager gescheucht.
Ein paar Tage später in Jerusalem hatte ihn sein Vater dann gelehrt, dass von den zwölf verschiedenen Heuschreckenarten, die im gelobten Land lebten, nur eine einzige den Reinheitsgeboten der Torah entsprach und ohne Schuld gegessen werden durfte. Schlomo hatte sich für die Unterweisung reichlich Zeit genommen und er hatte die Rute solange nicht ruhen lassen, bis Jonathan alle zwölf Arten samt ihren Unterscheidungsmerkmale auswendig aufsagen konnte. Dann hatte er ihn noch geloben lassen, dass er nie mehr eine Speisevorschrift brechen würde. Verzeihung aber, das hatte sein Vater zwischen den Schlägen immer wieder betont, würde es für einen, der sich für den Tempeldienst als unwürdig erwiesen hatte, nicht geben.
Jonathan biss sich leicht auf die Unterlippe. Es war ihm, als könnte er die harten Fleischbrocken, die er auf der Überfahrt mit Widerwillen hinunter gewürgt hatte, noch immer in seinem Mund spüren. Aber was für eine Wahl hatte er gehabt? Er sah seinen Vater deutlich vor sich, die Rute in der erhobenen rechten Hand. Zum Teufel mit meinem Vater und zum Teufel mit einem Gott, der die Flügel von Heuschrecken zählt, fluchte er und fühle sich im selben Moment schuldig. Er stand auf und ging rastlos im Raum umher. Die Reise hatte dreißig Tage gedauert. Das heißt, es musste viermal, wenn nicht fünfmal ein Schabbat darunter gewesen sein, und doch hatten sie kein einziges Mal den Schabbat eingehalten. Nur als einmal ein heftiger Sturm aufgekommen war, hatte Jonathan Bruchstücke von hebräischen Gebeten gehört, die meisten davon waren leere Gelübde, Versprechen, Opfer darbringen zu wollen, die dann nicht eingelöst wurden. Eine zweifache Sünde also.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...