Von Gleichen und Ungleichen

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Dann ging alles sehr schnell, fast mechanisch. Die Männer, denen man im Vorfeld mitgeteilt hatte, an welcher Position sie kämpfen würden, teilten sich in drei Gruppen auf. Eine sollte den Kampf mit einem frontalen Angriff eröffnen, die anderen sich im hügeligen Gebiet auf den beiden Seiten des römischen Stützpunktes versteckt halten, damit sie später von den Flanken her angreifen konnten. Wie für einen Vorposten üblich war die Anlage gut gesichert. Die Römer hatten den alten Steinturm, der noch aus der Zeit der Babylonier stammte, wieder instand gesetzt, weitere Holztürme errichtet und die Stellung mitsamt ihrem Waffenlager mit einem massiven Holzzaun umgeben. Außerhalb der Einfriedung waren ein tiefer, mit tödlichen Spitzen gespickter Graben und ein mannshoher Erdwall angelegt worden.

Sowohl Menachem als auch sein Truppenführer Schimon wussten sehr gut, dass sie mit ihren zweihundert Mann nicht die geringste Chance hatten, den Vorposten einzunehmen, sofern sich die römischen Truppen hinter ihrer Befestigung verschanzen würden. Deshalb war es ihre Absicht, die Römer in einem Blitzangriff zu provozieren und aus den Toren herauszulocken. Weder der Maskil selbst noch Schimon, ein kräftiger, etwas zu gedrungener, aber ungemein lebenslustiger und sympathischer Mann, gehörten dieser ersten Gruppe von rund hundert Mann an. Vielmehr führten sie die beiden Formationen an, welche die römischen Hilfssoldaten später an den Flanken überraschen sollten. Auch Silas, Jonathan und sein Knecht Jetur befanden sich im Gefolge des Schimon.

Zwar war ursprünglich vorgesehen gewesen, dass Jetur sich am Frontalangriff beteiligen sollte, doch war es aufgrund Jonathans entschiedenen Einspruchs nicht dazu gekommen. „Er bleibt bei mir", hatte er erklärt und da ihn der Gesichtsausdruck Schimons noch nicht genug überzeugt hatte, hinzugefügt: „Er ist mein Diener." Damit war die Sache geklärt, denn weder Schimon noch Menachem hätten daran gedacht, dem jungen Adeligen die Dienste seines Knechtes vorzuenthalten. Jonathan selbst machte der kurze Wortwechsel nachdenklich. Natürlich hätte er zufrieden sein müssen, dass es ihm gelungen war, seinen Freund dem wohl gefährlichsten Teil des Kampfes fernzuhalten, doch war es ihm wie ein Stich im Herzen zu wissen, dass der Maskil, den er so verehrte, Jetur aufgrund seines geringen Standes ohne große Bedenken geopfert hätte. Und das obwohl er Tag für Tag die Gleichheit unter den Kindern Gottes predigte. Fast noch schlimmer erschien Jonathan aber der Umstand, dass ausgerechnet die Berufung auf das Herr-Knecht-Verhältnis, das zwischen ihm und Jetur bestand, die Haltung des Lehrers hatte verändern können. Schweigend und ernst folgte er den Männern und suchte sich beinahe teilnahmslos ein Versteck hinter einem kleinen Felsvorsprung. Silas und Jetur waren ihm gefolgt und kauerten dicht neben ihm in dem noch kühlen Wüstensand.

„Sie sind so schlecht bewaffnet", flüsterte Silas, der gemeinsam mit Jonathan und Jetur beobachtete, wie sich ihre Mitstreiter, die Sonne im Rücken, für den Angriff bereit machten.

„Ganz im Unterschied zu den Römern", erwiderte Jonathan stumpf, dem ihr Vorhaben mit einem Mal wie eine riesengroße Dummheit erschien. Die römischen Soldaten waren üblicherweise durch Brustpanzer, Helme und Kettenhemden geschützt und mit runden Schildern, Kurzschwertern und Speeren ausgerüstet. Außerdem hatten sie zur Verstärkung Bogenschützen und eine kleine Kavallerieeinheit. Zwar wusste Jonathan, dass die Pferde hauptsächlich für Botendienste eingesetzt wurden, doch konnten sie in einem ungleichen Kampf leicht zu einer gefährlichen Waffe werden. Trotzdem: Sie hatten keine andere Wahl als den Angriff zu wagen. Zu unerträglich waren die politischen Verhältnisse. Das Volk Israel, das Gottesgehorsam und Gerechtigkeit gelobt hatte, ließ sich von machtgierigen korrupten römischen Beamten dirigieren, die ihre Unsicherheit durch Willkür und unmäßige Brutalität zu überspielen suchten. Und hatte ihnen der Gott Abrahams, der Gott ihrer Väter, nicht seine Unterstützung zugesagt? War es nicht er selbst, der für sie kämpfen würde. Jonathan seufzte. Er hörte Silas Atem, lauter als gewöhnlich. Er erinnerte sich daran, wie sie als Kinder Juden-gegen-Römer gespielt und dass sie natürlich immer gewonnen hatten.

„Hast du Angst?" fragte er tonlos.

„Wenn es nur das wäre", erwiderte Silas. Dann schwiegen sie. Das Licht der Morgensonne offenbarte die römische Befestigungsanlage in ihrer ganzen Ästhetik. Mächtig, fast unwirklich, stand der Vorposten vor ihnen.

„Meinst du, dass Schimons Strategie aufgehen wird?" erkundigte sich Silas nach einer Weile, die Jonathan wie eine Ewigkeit erschien.

„Fallen auch Tausende zu deiner Seite, dich wird es nicht treffen, denn dein Gott ist bei dir", zitierte Jonathan zur Antwort aus den Psalmen, doch ohne dass es ihm gelungen wäre, die notwendige Überzeugung in seine Stimme zu legen.

„Es sind ja zum Glück nicht Tausende", erwiderte Silas und fügte mit einem Mal entschlossen hinzu: „Und die paar Söldner erledige ich mit etwas Glück auch aus eigener Kraft."

„Was ist das?" fragte Jetur leise, der sich nahe neben Jonathan hingekauert hatte und nun, verborgen hinter einem vertrockneten Strauch, zum römischen Lager spähte. „Was ist es für ein Geräusch?" wiederholte er nach einer Weile seine Frage.

Doch anstatt einer Antwort erhielt er bloß einen verärgerten Blick von Silas. Das scharfe Zischen, das der junge Priester zugleich ausstieß, ließ Jetur verstummen. Die Gruppe der Angreifer bewegte sich unterdessen in einem langsamen Trott den Hang hinauf dem römischen Lager entgegen. Die Unordnung in der Angriffslinie war beabsichtigt, das wusste Jonathan nur zu gut. Dennoch nahmen Unbehagen und Furcht ihn immer mehr gefangen. Hatte er kurz zuvor noch voller Vertrauen den Worten des Maskil gelauscht, standen ihm die vielen Gefahren, die ihre Taktik barg, nun klar vor Augen. Was, wenn die gesamte erste Einheit niedergemetzelt würde und sie den übermächtigen Römern schlussendlich allein gegenüber stehen würden? Was, wenn die Römer sich in ihrem Lager verschanzen würden und der Angriff im Sand verlaufen würde? Auch wenn er es nicht zugeben wollte, er hatte Angst. Gänsehaut bedeckte seinen Rücken, die Arme, schmerzhaft krampfte sich sein Magen zusammen. Jonathan zwang sich, seine Aufmerksamkeit auf die Waffe in seiner Hand zu lenken, er hielt das gekrümmte Kurzschwert fest umschlossen, spannte seine Muskeln. Er dachte an Ammon, den kleinen Ziegenhirten, der damals als einziger die Strafexpedition der Römer überlebt haben mochte. Die Schreie der Sterbenden kamen wieder in sein Gedächtnis zurück, lebhaft, als wäre er jetzt gerade Zeuge ihrer Hinrichtung. Und mit einem Mal waren da wieder der Schmerz und die Wut, die er damals empfunden hatte, als er dem Massaker aus seinem Versteck heraus tatenlos zusehen hatte müssen. Wir tun, was wir den Toten schuldig sind, sagte er sich. Und während er noch den Gedanken formulierte, spürte er endlich eine Art Hunger auf den Kampf.

Ein stumpfes, sich in regelmäßigen Intervallen wiederholendes Schallen erfüllte die Stille des frühen Morgens, das Rufen der Römer dagegen drang nur gedämpft zu ihnen durch. Die jüdischen Rebellen schritten unterdessen entschlossen voran, aus den ersten Reihen ragten einige Stufenleitern hervor, die unregelmäßig wie der Gang der Krieger bald nach links bald nach rechts auspendelten. Die Leitern sollten den Feind glauben lassen, man habe vor, die Befestigung des Lagers zu überwinden. Aus seinem Versteck heraus fixierte Jonathan die andere Seite des lang gezogenen Tals, wo sich die karge Landschaft um das Bett des Wadis herum grünlich färbte. Dort in den Höhlen, irgendwo zwischen den Felsen, war das Versteck der dritten Gruppe, die vom Maskil selbst in den Kampf geführt werden sollte.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt