Am nächsten Morgen erwachte Tabitha früh. Durch die schweren Vorhänge drang das erste Tageslicht. Alles war still, die Dienerschaft hatte noch nicht zu arbeiten begonnen. Unwillkürlich musste Tabitha an ihr Elternhaus denken, an ihr Zimmer und an ihr Bett, die nun leer standen. Ihr wurde wehmütig zumute, doch im selben Moment mahnte sie sich zur Vernunft. Ich sollte dankbar sein, sagte sie sich. Denn natürlich wusste sie, dass diese Ehe für sie ein Geschenk war. Unzählige Male hatte sie sich nach der Sukkot-Nacht gefragt, warum sie nicht geschrien hatte. Aber es war eine Tatsache, die sich nicht mehr gutmachen ließ. Eine Tatsache, aufgrund derer sie dem Gericht nicht als Opfer, sondern als Sünderin gegolten hätte. Eine Jungfrau, die in der Stadt vergewaltigt wird und nicht schreit, muss gesteinigt werden, wiederholte sie mechanisch, wie sie es schon so viele Male getan hatte.
Zwar wusste Tabitha nicht, was genau ihr Vater Eleazar erzählt hatte, doch die Anspielung auf ihre Unschuld, mit der er sie in der Hochzeitsnacht verhöhnt hatte, legten nahe, dass er zumindest nicht ganz unwissend war. Jedenfalls hatte er in die Ehe eingewilligt und er hatte auch Tabithas Forderung akzeptiert, dass Dan mit ihr in den neuen Haushalt ziehen würde dürfen. Beim Gedanken an Dan erfüllte eine Wärme ihre Brust und sie musste unwillkürlich lächeln. Wie es ihm wohl ging? Wahrscheinlich schlief er ein paar Zimmer weiter seinen Rausch aus. Zuhause ließen ihn die Eltern kaum Wein trinken, am gestrigen Abend aber hatte es sich Dan besonders gut gehen lassen. Ich werde noch ein wenig schlafen, dachte Tabitha und drehte sich auf die Seite.
Doch bevor sie ihre Augen wieder schließen konnte, bemerkte sie, dass Eleazar neben ihrem Bett saß und sie still betrachtete. Das weiße Hochzeitskleid hatte er noch nicht abgelegt.
„Ihr habt nicht besonders viel geschlafen", sagte sie und ärgerte sich, dass man ihrer Stimme die Überraschung allzu sehr anmerkte.
„Schlafen kann ich immer", entgegnete er kalt und beobachtete sie dabei mit einer Mischung aus Neugierde und Belustigung. „Aber jetzt habe ich ein neues praktisches Werkzeug. Eine Gattin von priesterlicher Geburt." Die letzten Worte hatte er mit einer Art Zärtlichkeit gesprochen, von der Tabitha nicht wusste, ob sie ehrlich war oder Hohn.
„Ich bitte euch", erwiderte sie deshalb ausdruckslos, „ihr werdet doch keine Gefühle in diese Ehe hineintragen."
Eleazar lachte leise. „Ich bin ein Mensch ohne jedes Gefühl." Er wartete einen Augenblick, dann fügte er hinzu: „Aber ich gebe zu. Ich habe meine Freude mit euch. Ihr werdet mir sehr nützlich sein."
„Schön", entgegnete Tabitha knapp und richtete sich auf. Nachdem Eleazar am Abend zuvor zurück zu den Festgästen gegangen war, hatte sie ihr Hochzeitskleid wieder angezogen. „Dann werde ich jetzt aufstehen."
„Um was zu tun?", erkundigte sich Eleazar überrascht.
„Mich mit meinem Haushalt vertraut machen, selbstverständlich", gab Tabitha spitz zurück. „Ich nehme an, ihr habt einen Knecht, der eurer Dienerschaft vorsteht."
„Das habe ich", antwortete Eleazar, der für einen kurzen Moment unsicher wirkte. „Er ist ein Chaphschi."
„Ein Freigelassener", widerholte Tabitha spöttisch, „es beruhigt mich zu hören, dass es in eurem Haus nicht nur totgeprügelte Sklaven gibt, sondern auch den einen oder anderen Entlassenen."
Belustigt zog Eleazar die Augenbrauen hoch. „Ich habe euch immer für langweilig gehalten", stellte er trocken fest. „Hätte ich gewusst, dass ihr so unterhaltsam seid, hätte ich mehr bezahlt."
Tabitha sah ihm fest in die Augen. Dann schüttelte sie ihr langes glänzendes Haar und wand es mit den Händen geschickt zu einem losen Knoten. „Es ist genug, dass ihr Dan akzeptiert habt", sagte sie und fügte beinahe freundlich hinzu: „Ich bin euch dafür sehr dankbar."
Eleazar war aufgestanden und hatte seinen Mantel, den er lose über dem Hochzeitskleid trug, mit dem Gürtel um die Hüfte geschlossen. „Keine Dankbarkeit, meine Liebe," sagt er ungewöhnlich leise. "Ich bin alles andere als ein Wohltäter. Ich habe getan, was euer Vater verlangt hat." Er ging um das Bett herum und hielt ihr schließlich die rechte Hand hin, als wollte er ihr dabei behilflich sein, sich zu erheben. Tabitha folgte seiner Geste. Dann standen sie einander gegenüber, zwei Eheleute, die Zweck und Nutzen verbunden hatten. „Ich hätte noch viel mehr getan, um euch mein Weib nennen zu dürfen", flüsterte er und küsste dabei sanft ihren Hals. Seine Lippen hatten sie kaum berührt und Tabitha wunderte sich, dass sie trotz all der Verachtung, die sie für Eleazar empfand, keinen Widerwillen verspürte.
„Ich hätte alles getan", sagte er leise und nahm wieder eine gewisse Distanz zu ihr ein. „Auch gemordet", fügte er dann mit fester Stimme hinzu und sein Mund formte sich zu einem unscheinbaren Lächeln.
„Das war zum Glück nicht notwendig", erwiderte Tabitha schnell.
„Was ist Schicksal?", entgegnete Eleazar und wandte sich langsam von ihr ab. „Und was sind unsere eigenen Taten?" Er wartete ein wenig, ging zum Fenster, wo er einen der Vorhänge gelangweilt mit zwei Fingern zurückschob. „Die Priester denken viel darüber nach, nicht wahr?"
„Das tun sie", antwortete Tabitha kühl. „Aber ihr seid kein Priester und ich werde jetzt meine Dienerinnen rufen, damit sie mir beim Ankleiden behilflich sind."
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...