Später ruhten sie nebeneinander auf den Getreidesäcken. Eleazar hatte seine ursprüngliche Position kaum verändert, Tabitha lag seitlich neben seinem abgetrennten Arm, ihre Tunika hatte sie wie eine Decke über ihren eigenen Körper und über den seinen gebreitet. Sie war ruhig und ließ eine Hand verspielt über seine nackte Brust wandern. Es war ein Gefühl von Dankbarkeit, das sie dabei empfand, aber auch von Bewunderung und Zuneigung. Trotz all dem, wozu ich weiß, dass er fähig ist, ging es ihr durch den Kopf.
„Ich habe den Mann bezahlt, der euch Gewalt angetan hat", hörte sie da plötzlich unvermittelt und hart seine Stimme.
Tabitha richtete sich auf und sah Eleazar entgeistert an. „Was meint ihr?", fragte sie ungläubig.
„Die Sukkot-Nacht", erwiderte er ernst. Er sah ihr fest in die Augen und es schien Tabitha, als ob eine Art Schmerz in seinem Blick läge. „Achior hat ihn ausgewählt", ergänzte Eleazar. „Aber der Befehl kam von mir."
„Warum habt ihr das getan?", gab sie stumpf zurück. Es war ihr, als wäre nicht sie selbst die Frau, die zu ihm sprach. Als wäre all das eine Szene, die sie nicht betraf, eine Begebenheit wahllos aus dem Leben fremder Leute gegriffen.
„Ihr hättet nicht aus freien Stücken in die Ehe eingewilligt", antwortete Eleazar. Die Worte kamen sicher und selbstverständlich, als hätte er sie oft zuvor schon in Gedanken gesprochen. „Gewiss, die Rebellion des jungen Priesters hat mir in die Hände gespielt. Aber das allein wäre nicht genug gewesen. Ihr hättet im Haus eures Vaters die Witwe gespielt und keinen anderen mehr angesehen. Mich am wenigsten."
Einen Moment blieb es still. Wieder spürte Tabitha die Tränen in ihren Augen aufsteigen und wie ein leichtes Zittern sie ergriff. Doch dieses Mal stellte sie sich mit aller Kraft dagegen. Sie konzentrierte sich auf ihren Atem, das Kauen der Pferde, das von unten zu ihnen drang. Auch hob sie ihren Schal auf, der irgendwann achtlos auf den Boden geglitten war, und legte ihn sich um die Schultern. Es war ihr alles recht, was ihr einen Anlass gab, aus der eigenen Starre auszubrechen.
„Das habe ich nicht gemeint", setzte sie schließlich zu sprechen an. Eleazar musterte sie fragend. „Warum habt ihr es mir gesagt?"
„Damit ihr nicht vergesst, dass der Mann an eurer Seite eine Bestie ist", antwortete er schnell. Die Härte, die dabei in seinen Worten lag, schien dem Anlass nicht angemessen. Tabitha nickte ein wenig, blieb aber still. Sie war sich noch immer nicht sicher, ob sie, was sie gerade erfahren hatte, zu begreifen vermochte. Die Erinnerung an den Abend drängte sich ihr auf, an den Dattelhain. Aber sie wollte sich dem nicht hingeben. „Weil ich lieber für das gehasst werden will, was ich bin, als für etwas geliebt, das ich nicht bin", hörte sie da Eleazars Stimme, ungewöhnlich leise. Sie sah ihn an und war sich schon nicht mehr sicher, ob sie sich die letzten Worte nur eingebildet hatte.
„Nehmt das Messer!", sagte er dann. Seine Stimme war nun wieder laut und entschlossen. „Ihr habt zugesehen, wie ich Achior getötet habe. Ihr müsst unterhalb der Rippen ansetzen und die Waffe im Körper nach oben führen. Es wird aussehen, als wäre ich von eigener Hand gestorben."
Tabitha schwieg, sie war unfähig zu sprechen oder auch nur zu denken. Sie sah, wie sich sein Brustkorb hob und senkte, gleichmäßig, vielleicht etwas stärker als sonst. Der geschiente Arm lag neben seinem Körper, immer noch vom Ärmel der aufgeschnittenen Tunika umhüllt, ebenso der leblos Stumpf, den sie sich zuvor bemüht hatte, etwas höher zu betten. Denn der Arzt hatte sie gewarnt, dass die Nähte aufplatzen könnten, wenn der Druck durch das Blut zu groß würde.
„Ich bin gespannt, wie es vonstatten geht", sagte Eleazar und schien dabei ganz auf sie konzentriert, bemüht, jede ihrer Regungen wahrzunehmen. „Es wird auch für mich neu sein." Er wartete kurz. „Ich werde mit der Beherrschung ringen", fügte er hinzu und dann zynisch: „Ein letzter kleiner Kampf." Wieder schwiegen sie beide und die Zeit verging. Zeit in einem scheinbar bewegungslosen Raum, abgetrennt von allem, was Halt und Ordnung geben mochte. „Aber im Letzten", stieß Eleazar hervor, böse und gepresst, „ist der Mensch schwach." Jetzt endlich schien Tabitha wieder zu erwachen. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Doch Eleazar hatte selbst diese kleinste Bewegung wahrgenommen.
„Nur zu, mein Täubchen", meinte er, als ob er sie aufmuntern wollte. „Rache ist ein so köstliches Gefühl."
Tabitha ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Die Luke, die Getreidesäcke und der schmale Gang, der Holzbalken, das Messer. Sie beugte sich ein wenig zu Eleazar hinunter und zog den Stoff seines zerschnittenen Gewandes fest über seiner Brust zusammen. Dabei huschte ein kleiner Schatten über sein Gesicht. Ihre entschlossene Bewegung hatte die Lage seines geschienten Arms abrupt verändert. Doch in diesem Augenblick war es Tabitha einerlei, Eleazar Schmerzen verursacht zu haben. Sie schlug ihre Tunika zurück und wand ihm das Subligaculum geschickt um die Hüften.
„Mein Vater hat mich gelehrt, die Geister zu unterscheiden", stellt sie fest. „Der Geist der Rache ist dunkel und führt zum Bösen." Während sie sprach, kleidete sie sich an. Eleazar tat nichts. Nachdem Tabitha ihrer beider Kleidung in Ordnung gebracht hatte, setzte sie sich wieder neben ihn auf den Getreidesack. Doch der Abstand zwischen ihnen war nun größer.
„Es ist unmöglich, dass ihr mir verzeiht", sagte Eleazar. Seine Stimme zitterte leicht. Er deutet mit seiner linken Hand in Richtung des Messers. Doch die Geste wirkte unbeholfen.
Tabitha zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht", erwiderte sie leise. „Jetzt gerade ist mir, als wäre kein einziges Gefühl in meinem Herzen." Sie betrachtete ihn schweigend. „Aber wenn ich nicht verzeihen könnte", fuhr sie entschlossener fort. „Dann würde ich zu Gott beten..."
„Gott!", unterbrach er sie aufbrausend und richtete sich dabei auf. „Wie sehr ich diesen Gott verachte!" Er wurde lauter, unbeherrscht beinahe. „Hat er je die Leidenden getröstet?", fuhr er sie an. „Je die Schmerzen gestillt der Gequälten?" Mit einem Mal schien all das Wilde und Unkontrollierte in ihm wieder aufgebrochen, eine grenzenlose Entschlossenheit, der jedoch das Ziel fehlte.
„Regt euch nicht auf", entgegnete Tabitha stumpf. Sie rückte einen der Säcke ein wenig zurecht und zwang Eleazar mit einem sanften, aber bestimmten Druck auf den Brustkorb, sich wieder anzulehnen. Obwohl ihm anzusehen war, dass es ihm große Schmerzen bereitete, sich auf den Ellenbogen aufzustützen, gab er nur widerwillig nach. „Das Problem des Leidens", fuhr Tabitha ruhig fort. „Die Schriftgelehrten haben verschiedene Antworten..."
Eleazars lautes und böses Lachen ließ sie verstummen. „Was wissen die Schriftgelehrten?", herrschte er sie an. „Was haben sie schon gesehen?" Er steigerte die Lautstärke seiner Stimme. „Ich habe Menschen ermordet, Tabitha, gequält, ich habe die Todesangst in ihren Augen gesehen, ihr Flehen gehört. Und da war kein Gott, ihnen zu helfen. Nicht ein einziges Mal." Tabitha spürte, dass er sich wieder aufsetzen wollte, denn ihre Hand lag noch immer auf seiner Brust. Und doch tat er es nicht. Allein seine Muskeln schienen ihr noch gespannter als zuvor. Wie ein Panzer, sagte sie sich, der sein Inneres umgibt. „In der Sukkot-Nacht," fuhr Eleazar fort, eindringlich, Wut und Schmerz schienen sich in seinen Worten untrennbar zu vermischen. „Wo war er da euer Gott?" Er wartete kurz und als sie nicht reagierte, fuhr er fort: „Wir sind allein! Allein in einer erbarmungslosen Welt, einem Kampf um das Überleben, den nur die Starken gewinnen können. Da ist kein Gott, Tabitha", beschwor er sie, „kein Herz, das sich erbarmen würde wie das eure!"
„Eleazar", stieß Tabitha hervor, hastig, leise und unsicher. „Ihr versündigt euch."
In dem Moment hörten sie vom Stall her Stimmen und Schritte. Es war Zeit für die Nachtwache und die Sklaven waren zurückgekommen. Sie mussten mindestens zu zweit, wenn nicht zu dritt sein, die leisen Worte, die sie wechselten, waren schwer zuzuordnen. Tabitha fröstelte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass längst die Nacht mit ihrer ganzen Kälte hereingebrochen war und das spärliche Licht der Kammer nicht mehr der Dämmerung, sondern dem Mondlicht geschuldet war. Sie sah Eleazar an. Der lächelte spöttisch, ganz so, als hätte er seine souveräne Haltung nie aufgegeben, und deutete ihr, sich zu ihm zu beugen.
„Damals wolltet ihr euch nicht wie eine Diebin aus eurem eigenen Haus davonstehlen", flüsterte er ihr ins Ohr. „Jetzt sind wir wie Einbrecher am Speicher unserer Stallungen gefangen." Die Vorstellung schien ihn zu amüsieren. Da Tabitha nicht wusste, was sie tun sollte, legte sie sich wieder neben ihren Mann, mit einer Hand hielt sie die beiden Stoffteile auf seiner Brust zusammen. Ob aus Fürsorge oder weil ihr sonst nichts zu tun einfiel, war unklar. Eleazar drehte den Kopf in ihre Richtung und sie sahen einander lange schweigend an.
„Keine Sorge, mein Täubchen", flüsterte er nach einer Weile, unnahbar und kalt, wie sie ihn kannte. „Früher oder später schlafen die Wachen ein. Dann gehen wir zum Haus zurück. Und wenn der Tag anbricht, werde ich sie bestrafen lassen."
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...