„Ihr seid die Söhne des Lichts", klar und kraftvoll hob sich Menachems Stimme vom Horizont und von der dahinter aufgehenden Sonne ab. Seit Jonathan, Silas und Jetur in Para angekommen waren, waren einige Stunden vergangen. Zuerst hatte sie Schimon, der Truppenführer des Maskils, mit der Kampfstrategie vertraut gemacht, dann hatten sie sich in einem der Zelte einen Ruheplatz gesucht und zwischen den warmen schweren Leibern ihrer Mitstreiter schnell den Schlaf gefunden. Nun hatten sie sich gemeinsam mit den anderen zu einer losen Formation zusammengefunden und warteten auf die Ansprache des Predigers.
„Höre, Israel! Zu lange schon haben wir zugesehen, wie unsere Schwestern und Brüder von fremden Herrschern geknechtet wurden. Zu lange schon haben wir gezaudert, waren feige, haben unsere eigenen Pläne verfolgt und nicht dem Reich des Himmels gedient."
Menachem hielt kurz inne und schritt die erste Reihe seiner Anhänger ab. Er war groß und schlank, in seinem weiten weißen Gewand spielte der Wind, seine dunklen Augen blitzen wild. Der lange Bart und das dichte, verfilzte Haar verliehen seinem Gesicht einen noch finstereren Eindruck, als es die von der Sonne verbrannte Haut ohnehin schon tat. „Höre Israel", fuhr er mit bebender Stimme fort. Wie schon beim ersten Mal, als Jonathan den Essener hatte predigen hören, nahm ihn seine Ausstrahlungskraft gefangen, „du ziehst heute in die Schlacht gegen den Feind. Fürchte dich nicht! Zittere nicht, denn dein Gott geht mit dir, um für dich zu kämpfen, gegen deinen Feind, und um dich zu beschützen." Ein Raunen ging durch die Menge. Dass es Zustimmung bedeutete, war offensichtlich. Doch angesichts der Nähe des römischen Lagers wagten die Männer nicht, ihrem Lehrer laut zuzujubeln. Dafür hielten sie ihre Banner, auf denen in großen Buchstaben Schlagworte wie „Gott ist Wahrheit" oder „Volk Gottes" geschrieben standen, noch etwas höher, als sie es zuvor schon getan hatten.
„Die Schlacht ist dein", rief Menachem. Während dem Sprechen war er auf eine kleine Anhöhe gestiegen, sodass seine Silhouette nun erhaben und unantastbar vor der aufgehenden Sonne thronte. Jonathan und Silas standen gemeinsam mit den anderen Priestern, einer Handvoll Jugendlicher aus dem priesterlichen Adelsgeschlecht von Jerusalem, unmittelbar vor dem Maskil. Aus ihrer Perspektive wurde die Sonne zur Gänze von der Gestalt des Predigers verdeckt, ihre ständig stärker werdenden Strahlen aber verliehen Menachem einen noch majestätischeren Ausdruck. „Die Schlacht ist dein, Kraft geht von dir aus, doch es ist nicht deine eigene."
Kraft geht von dir aus, widerholte Jonathan bei sich. Tatsächlich, wer konnte besser von Kraft sprechen als Menachem. Jede Miene seines Gesichtes, jede Bewegung seines Körpers, jedes Wort, das er sprach, zeugte von einer unbeugsamen Kraft, entflammte die Herzen derer, die ihm zuhörten. Wenn er ein Zelt betrat, war der Raum erfüllt von seiner Gegenwart, und in der Wüste erahnten die Jünger seine Ankunft noch bevor er sein Gesicht enthüllte.
„Zu lange haben wir geschwiegen und alles ertragen. Aber jetzt richtet sich unser Zorn gegen die Reichen, unser Hohn gegen die Könige und mächtigen Männer, die den Willen Gottes verdrehen, das Leid der Armen und Unterdrückten nicht sehen, der Waisen und Witwen. Wir bereiten heute den Weg für den Messias, wir ebnen ihm den Boden." Langsam löste sich Menachem von der Sonne, die hinter ihm immer höher den Himmel emporgestiegen war, und näherte sich wieder seinen Männern. Zeit verstrich. Gebannt warteten die Zuhörer, ob ihr Lehrer weitersprechen würde. Der hatte mittlerweile damit begonnen, die Reihe der jungen Priester entlang zu gehen. Als er Silas erreicht hatte, blieb er stehen und legte ihm die rechte Hand auf die Schulter. Wohl wegen seiner blauen Augen, dachte Jonathan und musste innerlich schmunzeln. Denn zum einen stach sein Freund durch sein dunkelblondes gelocktes Haar und die strahlend blauen Augen, beides Merkmale, die er von seiner schönen griechischen Mutter geerbt haben musste, tatsächlich aus der Menge heraus, und zum anderen hasste er es, wenn Jonathan ihn wegen seiner Augenfarbe hänselte.
„Ihr seid die Söhne des Lichts", rief der Maskil über Silas Schultern hinweg noch einmal der Menge zu. Wieder folgten unterdrückte Zuspruchsbekundungen. „Meine Priester", fuhr er dann ungewöhnlich leise fort, „werden den Segen über euch sprechen." Dabei nickte er Silas würdevoll zu.
Der zögerte einen Moment. Er stammte aus einer noch jungen und unbedeutenden Priesterfamilie und war es im Unterschied zu Jonathan nicht gewohnt, dass ihm in einer liturgischen Handlung eine wichtige Funktion zukommen sollte. Doch sein Stolz und die Ehre, die ihm durch Menachems Zuwendung zuteil geworden war, halfen ihm seine Unsicherheit schnell zu überwinden und so wandte er sich ruhig, als gäbe es für ihn nichts Selbstverständlicheres, den Jüngern des Maskils zu. Die übrigen Priester folgten seinem Beispiel und gemeinsam sprachen sie den Segen: „Seid stark und mutig als Krieger. Fürchtet euch nicht, weicht nicht zurück, noch flieht vor ihnen. Denn sie sind ein gottloser Haufen und all ihre Taten sind finster. Baruch Adonai le'olam!"
Während sie sprachen, wanderten Jonathans Augen von einem Kämpfer zum anderen. Menachems Truppe war rund zweihundert Mann stark. Die meisten von ihnen waren Bauern aus ländlichen Gegenden, einige gehörten den ärmeren Jerusalemer Bevölkerungsschichten an und wieder andere stammten aus Galiläa oder Samarien. Ihre Ausrüstung war schlecht, sie hatten Steinschleudern, Äxte und Mistgabeln. Nur wenige trugen Holzschilder und Dolche, Schwerter und Lederrüstungen fehlten fast vollständig und die Kopfbedeckungen der Männer waren, wenn vorhanden, höchstens aus Stoff gefertigt. Alles in allem waren sowohl ihre Kleidung als auch ihr Kriegsgerät so unterschiedlich, dass Jonathan sich im Nachhinein wunderte, wie sie die sechsköpfige Spähertruppe bei En-Schemesch für Römer hatten halten können. Was ihnen allen aber gemeinsam war, war der entschlossene Ausdruck in ihren Augen, die Unbeirrbarkeit, mit der sie hinter ihrem Lehrer standen. Während Jonathan noch in die Beobachtung der Soldaten vertieft war, hatten die übrigen Priester bereits die Schofarhörner angehoben. Durch einen leichten Stoß in die Rippen, den ihm Silas verpasste, wurde er sich gerade noch rechtzeitig seiner Pflichten bewusst, führte das Horn zum Mund und blies gemeinsam mit den anderen Priestern zum Kampf.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...