Er stockte und Jonathan spürte, dass es ihm schwer fiel weiter zu sprechen. „Und trotzdem weiß ich", setzte er endlich mit zitternder Stimme fort, „dass sie uns niemals besiegen werden. Mein Vater und mein jüngerer Bruder planen eine neue Revolte in Judäa." Er machte wieder eine kurze Pause, stand auf und begann hin- und herzugehen. „Es ist bekannt, warum du in Rom bist. Wir beobachten dich."
„Es erstaunt mich, dass ein unbedeutender Mann wie ich bei den Großen und Mächtigen dieser Stadt auf so viel Interesse stößt", gab Jonathan spöttisch zurück.
Doch Alexander schien den Hohn überhört zu haben. „Jonathan, wir müssen kämpfen!" Er sah ihn erwartungsvoll an, doch Jonathan gab kein Zeichen von Zustimmung oder sonst einer Gemütsregung. „Dein Vater und mein Onkel haben sich zu Sklaven der Römer gemacht."
„Mein Vater dient Gott allein", fuhr ihn Jonathan barsch an und wunderte sich dabei über sich selbst. Alexander dagegen lächelte versöhnlich.
„Natürlich verteidigst du deinen Vater. Es ist das, was ein guter Sohn tun muss. Aber wie kann der Dienst eines Priesters, der sein Volk verraten hat, noch gottgefällig sein? Oder warum lehrt uns der Prophet, dass nur reine Hände ein Opfer darbringen dürfen? Kann denn eine rituelle Waschung ausreichen, um all das Blut und die Schuld hinweg zu nehmen?"
Jonathan starrte stur an Alexander vorbei nach draußen. Und doch gelang es ihm immer weniger, sein Herz gegenüber den Worten des Königssohnes zu verschließen. Er schwieg und auch Alexander schien auf etwas zu warten. Ob Gott Wohlgefallen an den Opfern eines Mannes findet, der sein Volk verraten hat? Überlegte er und wusste keine Antwort. Mehr noch: Es war eine Frage, die er sich noch nie gestellt hatte. Ob er Wohlgefallen an einem Priester hat, der seinen Sohn... Jonathan unterbrach sich, denn es gelang ihm nicht, die Worte zuzulassen, die er verwenden hätte müssen, um seinen Satz zu beenden.
Fast wünschte er, dass Alexander seinen Monolog fortsetzen würde, doch der andere blieb still. Wie zufällig beschrieb Jonathan mit seinem rechten Fuß einen kleinen Kreis am sandigen Boden. Er war nicht besonders präzis, denn dafür saß die Sandale zu locker. Vielleicht weil ihm die Form missfiel, vielleicht weil sich noch immer nichts ereignete, das seiner Aufmerksamkeit bedurft hätte, setze er noch einmal an, machte den Kreis größer, übte mehr Druck auf den Untergrund aus. Plötzlich war ihm, als läge das Bild seines Vaters vor ihm im Staub und als würde er sein Gesicht, sein selbstgefälliges, sein kaltes Lächeln, wieder und wieder überschreiben, aus seinem Gedächtnis ausstreichen. Wenn der Boden ein Blatt Pergament wäre, dachte er, dann würde ich eine Unmenge an Tinte verwenden, um diesen Schädel schwarz zu färben. Immer mehr Tinte.
„Jonathan", die Stimme Alexanders riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich wollte nicht schlecht über deinen Vater sprechen."
Jonathan zuckte mit den Schultern. Dann bückte er sich und strich den Sand mit der Hand glatt, fast so, als müsste er das, was er dem Bildnis des Vaters angetan hatte, gutmachen.
„Die Herrschaft der Römer ist eine Herrschaft der Reichen und Mächtigen", hörte er Alexander sagen und richtete sich beinahe dankbar wieder zu ihm auf. „Sie knechtet die Armen, sie kennt kein Erbarmen. Aber es wird eine Zeit geben, in der Gott König ist und kein anderer neben ihm. Eine Zeit, in der alle Kinder Israels gleich sein werden, eine Zeit, in der Frieden herrscht und die Menschen zum Tempel des Herrn pilgern."
Alexander hatte die letzten Sätze in einem Zug gesprochen und Jonathan hatte den Eindruck, die Vision von dieser schönen neuen Welt war für ihn ebenso real wie die Gegenwart, die sich von dem Ideal doch so deutlich unterschied. Kurz gab er der Versuchung nach, sich auf die Bilder der Hoffnung, die der Königssohn gerade beschrieben hatte, einzulassen. Aber sie waren zu schwach, es gelang ihnen noch nicht einmal, den Vater aus seinem Kopf zu verdrängen, geschweige denn die Erinnerung an die Verwundeten, den sterbenden Jetur. Und doch: Wie oft hatte er selbst sich nicht solchen Träumen hingegeben? Hatten sie jemals etwas Gutes bewirkt?
„Für Ideen wie diese haben schon viele Menschen ihr Leben gelassen", erwiderte er daher knapp.
„Und doch wird ihre Sehnsucht einmal in Erfüllung gehen", widersprach ihm Alexander leidenschaftlich „Einmal Jonathan, wird das Reich Gottes Wirklichkeit werden."
Jonathan stand auf. Alexander war etwa gleich groß wie er. Seine Kleidung war aus feinen Stoffen, als Zeichen seines sozialen Rangs trug er zwei goldene Armbänder.
„Ich werde jetzt gehen, Herr", stellte Jonathan höflich fest und wartete dabei insgeheim darauf, dass einer der Männer ihn festhalten würde.
„Ich wollte dich um deine Unterstützung bitten", sagte Alexander sanft und dabei doch unbeirrt.
„Und wie stellt ihr euch das vor?", erkundigte sich Jonathan zynisch. „Ich bin ein gesuchter Verbrecher, ein Staatsfeind." Er sah Alexander herausfordernd in die Augen. Der hielt seinem Blick stand.
„Ich habe gehört, Herodes setzt sich für deine Begnadigung ein", erwiderte er und seine Stimme hatte mit einem Mal einen beinahe harten Klang angenommen.
„So ist es", gab Jonathan schroff zurück. „Und wie ihr selbst schon erwähnt habt. Ein Mann, der mit Herodes paktiert, kann nicht..."
„Warte, Jonathan." Alexander unterbrach ihn und hielt ihn an den Oberarmen fest. „Ich war voreilig. Verzeih mir meine Worte." Er wartete kurz, dann fügte er beinahe bittend hinzu: „Wir sind die Söhne desselben Gottes, gelobt sei sein Name."
Jonathan verbeugte sich leicht und wich zugleich einen Schritt zurück, sodass Alexander ihn loslassen musste. „Ich weiß nicht, wie ich euch nützlich sein könnte, Herr", entgegnete er ein wenig freundlicher.
Alexander zögerte einen Augenblick. „Wenn ich deine Hilfe benötige, darf ich dann nach dir schicken?"
„Ja", sagte Jonathan ohne lange zu überlegen und verbeugte sich noch einmal. „Tut das."
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...