Die Tiefen der Suburra

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Ein paar Tage später, es war der Abend vor dem Schabbat, begleitete Jonathan seine Gastgeber in das Haus des Nikodemus. Er war nicht besonders motiviert, denn er hätte lieber zuhause bleiben und seine Rede fertigstellen wollen. Doch er mochte nicht unhöflich sein und so kam er mit. Während sich Hanna und Josephus in ihrer Sänfte tragen ließen, zog es Jonathan vor, zu Fuß zu gehen. Das viele Sitzen und ausgiebige Essen, das sein neues Leben in Rom mit sich gebracht hatte, widerte ihn im Grunde an und er nützte daher jede Gelegenheit sich zu bewegen. Er hatte sogar damit begonnen, ein paar kleinen Sklavenjungen im Haus seines Onkels das Fechten beizubringen. Doch bei Josephus stießen die Kampfübungen der Dienerschaft auf keine große Gegenliebe und so hatte Jonathan den Unterricht bald wieder einstellen müssen.

Nikodemus wohnte in einer imposanten Villa knapp eine halbe Meile stadtauswärts auf dem westlichen Hang des Aventin. Es hieß, er könne von seinem Haus aus durch einen unterirdischen Gang hindurch die nahe gelegene Therme erreichen. Doch als Jonathan das Haus zum ersten Mal sah, erschien es ihm, als könne Nikodemus darin bequem eine eigene Thermenanlage unterbringen. Denn der ohnehin äußerst großzügige Grundriss war dank der natürlichen Steigung des Hügels zu einer drei Etagen hohen Anlage ausgebaut worden, eine massive Steinmauer friedete das Anwesen ein und schützte den gepflegten Garten vor Eindringlingen ebenso wie vor neugierigen Blicken. Wer so reich ist wie Nikodemus, hat für einen Geheimgang bestimmt eine andere Verwendung, als bloß rasch in die Therme zu gelangen, sagte sich Jonathan, doch in Wahrheit interessierte er sich weder für Nikodemus noch für seinen Reichtum oder seinen Geheimgang. Das einzige, was ihn in den letzten Tagen wirklich beschäftigt hatte, war die Frage, wie er zurück nach Jerusalem kommen konnte. Er hatte sich verschiedene Pläne zurecht gelegt, die meisten von ihnen aber wieder verworfen und war schließlich zum Schluss gekommen, dass seine Möglichkeiten alles in allem sehr begrenzt waren. Ohne eine offizielle Begnadigung konnte er nicht in sein Elternhaus zurückkehren. Seine Ersparnisse würden vermutlich ausreichen, die Schifffahrt zu bezahlen, doch was sollte dann aus ihm werden?

Der Abend war kühl und Jonathan schritt weit aus, denn er wollte mit den Sklaven, die neben ihm gingen und die Fackeln trugen, die man am Rückweg brauchen würde, Schritt halten. Sie gingen schweigend und doch spürte Jonathan das Wohlwollen, das die Männer ihm entgegenbrachten, und es verschaffte ihm ein gewisses Wohlbehagen, das sich auch von der Nässe und dem kalten Dunst der Stadt nicht verdrängen ließ. Als sie das Haus des Nikodemus erreicht hatten, stieg Josephus würdevoll aus seiner Trage, sah sich kurz um und begrüßte dann den ersten Mann, der auf ihn zukam, mit einer eigenartigen Entschlossenheit.

„Jonathan, mein Junge", sagte er zugleich und es war dabei unklar, an wen er sich eigentlich wandte. „Das ist Alphäus, bist du so freundlich und begleitest ihn?"

Grammatikalisch gesehen ist der Satz eine Frage, dachte Jonathan spöttisch, wie ihn Josephus ausgesprochen hat, jedoch eher ein Befehl. Er sagte nichts, sondern nickte nur knapp und folgte dem kleinen, kräftig gebauten Mann mit ungepflegtem Bart, der offensichtlich ebenso wenig an einem Gespräch interessiert war wie Jonathan selbst. Mit einem derart verwilderten Bart könnte ich mich sogar als Diener im Haus des Eleazars anstellen lassen, überlegte Jonathan und fand einen gewissen Reiz an dem Gedanken, wenngleich er ihn nicht als eine ernsthafte Option einstufte. Zumindest könnte ich dann Tabitha nahe sein, sagte er sich, ihre Stimme hören, sie aufmuntern, wenn sie traurig ist. Ob sie ihn erkennen würde, armselig gekleidet, mit gebeugtem Rücken und immer gesenktem Blick? Er wusste es nicht, machte sich aber im selben Moment bewusst, dass er besser daran täte, seinen Träumen weniger Aufmerksamkeit zu widmen, wollte er Alphäus nicht schon bei der ersten Abzweigung aus den Augen verlieren.

Der nämlich ging noch um einiges schneller als die Sklaven des Josephus und schien sich im Übrigen nicht darum zu kümmern, ob Jonathan ihm überhaupt folgte. Der Diener trug einen breiten braunen Umhang, unter dem bei manchen Bewegungen etwas Metallenes hervorblitzte. Er muss ein Leibwächter des Nikodemus sein, ging es Jonathan durch den Kopf. Auch wenn es in Rom nicht verboten war, bewaffnet auf die Straße zu gehen, so war es doch unüblich und galt für einen rechtschaffenen Bürger in gewisser Weise sogar als unschicklich. Sie bogen nach links in eine enge Gasse ein, die steil bergab führte, eine breite Kurve beschrieb und schließlich an den Füßen des Caelius, unweit von der kaum merklichen Erhebung des Oppius in einen Arkadenhof mündete.

Alphäus drosselte sein Tempo. Er war vorsichtig, wählte kleine Gassen und achtete darauf, sich am Rand der Straßen im Schatten der Gebäude fortzubewegen. Es waren nur wenige Menschen unterwegs. Die einzigen Geräusche, die man hörte, kamen aus dem Inneren der Häuser, aus den Tavernen, wo die römischen Bürger ihren Feierabend bei Wein, Weibern und Würfelspielen zubrachten. Als sie in das kleine Tal zwischen dem Quirinal und dem Viminal einbogen, wurde der Gestank, der in der Luft lag, immer stärker. Jonathan war noch nie in dieser Gegend gewesen, denn sowohl Hanna als auch die Bediensteten hatten ihm dringend geraten, die Suburra zu meiden. Während des Tages war es in erster Linie der beißende Geruch, der Müll und die Exkremente der Tausenden von Menschen, die eingepfercht in den bis zu acht Etagen hohen Insulae ihr Dasein fristeten, was die Suburra unwirtlich machte. Wenn aber die Sonne unterging, verwandelten sich die engen, schmutzigen und dunklen Gassen mit ihren steilen Treppen in das Territorium von Räuberbanden, die wenn sie nicht gerade damit beschäftigt waren, sich blutige Fehden zu liefern, mit Vorliebe unvorsichtige Mitbürger überfielen.

Je weiter sie in das Armenviertel vordrangen, desto zahlreicher wurden die Tavernen. Die Stimmen, die nach außen drangen, waren aufbrausend, grob und vom Suff gezeichnet. Plötzlich drehte sich Alphäus um und zog Jonathan in eine dunkle Nische zwischen zwei Hauseingängen. Jonathan duckte sich instinktiv und beobachtete aus seinem Versteck eine Gruppe von fünf bulligen Männern, die mit langen Holzstöcken, Lanzen und Mistgabeln bewaffnet die Straße patrouillierten. Sie sind auf der Suche nach Opfern, dachte Jonathan, empfand dabei aber weder Angst noch sonst eine Regung. Ich muss zurück nach Jerusalem, sagte er sich und wusste zugleich, dass ihn der Vorsatz allein nicht weiterbringen würde.

Als die Männer gut fünfzig Schritte weiter waren, zog Alphäus Jonathan ruckartig hoch, überquerte eilig die Straße und bog dann scharf nach rechts ab, wo sie im Schatten eines Tempels Zuflucht fanden. Dicht an den steinernen Wänden tasteten sie sich weiter, stiegen eine gepflasterte Treppe hinauf, deren Stufen so unregelmäßig waren, dass sie sich nun noch mehr auf den Weg konzentrieren mussten, als sie es zuvor schon getan hatten. Dann folgten sie einem stetig ansteigenden engen Tunnel unter einer Wohnanlage hindurch. Irgendwann blieb Alphäus stehen und Jonathan drehte sich zum ersten Mal um. Die Suburra lag jetzt unter ihnen. Der Gestank hatte sich verflüchtigt und auch die Geräusche drangen nur noch gedämpft zu ihnen hinauf. Dafür strahlte das Licht aus den unzähligen kleinen Fenstern und verlieh dem Armenviertel auf diese Weise eine Art trügerische Schönheit.

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