Freundschaftsdienst

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Jonathan holte zum ersten Schlag aus. Das Ende des Riemens traf ihn auf der Höhe der Schulterblätter. Die Haut brannte, aber zu schwach. Er schlug fester, fasste das Leder weiter hinten, sodass das lose Ende, das sich in der Luft bewegen konnte, nun länger war. Damit wurde das Ergebnis besser. Auch zwang er sich mit einer bestimmten Anzahl an Hieben auf dieselbe Stelle zu zielen, steigerte die Geschwindigkeit. Irgendwann wechselte er die Hand, weil er mit der rechten nur die linke Seite seines Rückens gut treffen konnte. Doch er war unzufrieden. Unzufrieden mit seiner Linken und damit, dass die Strafe nicht dem entsprach, was er erwartet hatte. Was fehlte, war nicht nur die Intensität der väterlichen Hand, sondern auch die Ohnmacht, das Gefühl ausgeliefert zu sein, das, wie Jonathan allmählich begriff, zur Züchtigung wesentlich dazu zu gehören schien. Doch Schlomo war eben nicht hier und so fuhr er verbissen in seinem Tun fort, bis ihn eine Stimme erschrocken innehalten ließ.

„Jonathan, was machst du da?" Es war Lucius, der offenbar zurückgekommen war. Er stand ein paar Schritte vor ihm und machte anders als sonst keinen besonders gefassten Eindruck.

Jonathan antwortete nicht. Sein Herz schlug wie wild und er schämte sich, wie er es noch nie in seinem Leben getan hatte. Auch Lucius musste die Situation unangenehm sein, denn er deutete mit einem entschuldigenden Blick auf sein Pult und machte sich sofort daran, seine Wachstäfelchen durchzusehen. Er muss etwas vergessen haben, sagte sich Jonathan, doch weiter wusste er weder, was er denken noch was er unternehmen sollte.

Lucius schien es nicht zu gelingen, sich auf seine Unterlagen zu konzentrieren. Er hörte mit dem Suchen auf und sah Jonathan fragend in die Augen. Der hielt dem Blick stand, zeigte sonst aber keine Reaktion.

„Es heißt, bei euch Priestern gehört das zum guten Ton", sagte er unsicher und versuchte seinem Mitschüler dabei aufmunternd zuzulächeln. Natürlich wusste er, dass Jonathan seine Anwesenheit äußerst unangenehm war, und weil er ihn mochte, wollte er die Sache überspielen. Mit einer Geste in Richtung Tür deutete er an, dass er gleich wieder fortgehen würde.

„Ich hatte Probleme mit meinem Gewissen." Kalt und unberührt kamen die Worte aus Jonathans Mund.

„Was hast du denn verbrochen?" erkundigte sich Lucius und bemühte sich dabei, seiner Stimme einen unbeschwerten, scherzhaften Klang zu verleihen.

„Zwei meiner Freunde sind tot und zumindest was einen von ihnen betrifft, ist es meine Schuld." Jonathan wartete kurz. „Und ich haben mein Mädchen im Stich gelassen", ergänzte er dann. Die Traurigkeit, mit der er sprach, berührte Lucius. Hatte er zuvor nur den Wunsch gehabt, die Rhetorikschule so schnell wie möglich zu verlassen, spürte er jetzt den Drang, Jonathan in irgendeiner Weise zu helfen.

„Wegen dem Mädchen würde ich mir keine großen Gedanken machen", widersprach er deshalb. „Frauen haben viel effektivere Methoden, einen Mann zu bestrafen, als wir es uns auch nur annähernd ausmalen können."

Jonathan seufzte und schüttelte dabei den Kopf. „Tabitha nicht", entgegnet er. „Sie hat einen Mann geheiratet, den sie aus ganzem Herzen verachtet."

„Na, siehst du", erwiderte Lucius.

„Du denkst, sie hat ihn geheiratet, um mich zu verletzen?" fragte Jonathan ungläubig.

„Warum nicht?", gab der andere zurück und stellte zufrieden fest, dass sein Mitschüler allmählich weniger befangen wirkte.

„Das ist unmöglich!", rief Jonathan empört aus und wollte schon damit beginnen, sich anzuziehen, da hörte er Lucius sagen: „Geht es dir jetzt denn besser?"

Jonathan zögerte. Er sah Lucius in die Augen. Sie waren offen, unverstellt und schienen dabei von einer ehrlichen Sorge bewegt. „Nicht wirklich", antwortete er nach einer Weile. „Der Schmerz war zu schwach. Anders, als ich es erwartet hatte."

Lucius seinerseits schien auf etwas zu warten. Sein Blick ruhte auf Jonathan, der immer noch mit nacktem Oberkörper vor ihm stand, den in der Mitte gebogenen Lederriemen in der rechten Hand.

„Die Sklaven meines Adoptivvaters tun mir immer leid, wenn ich sie schlagen muss", begann Lucius, endlich wieder selbstsicher. „Aber bei einem gut gebauten, reichen Zinshändler wie dir könnte ich mein Mitgefühl ganz gut in Zaum halten."

Jonathan betrachtete Lucius überrascht. „Ich mache keine Zinsgeschäfte", widersprach er mit einer Art gespielter Empörung und grinste dabei, denn er war sich der freundschaftlichen Zuneigung, die zwischen ihnen herrschte, sicher. „Aber ich bedanke mich für das nette Angebot."

Lucius kam jetzt auf ihn zu und nahm ihm den Riemen aus der Hand. Dann spannte er ihn geräuschvoll in der Luft, so wie es alle Herren tun, wenn sie ihren Knechten Angst einjagen wollen. „Weißt du, Jonathan", belehrte er ihn mit gespielter Strenge, „bevor du hier aufgetaucht bist, war ich der Lieblingsschüler des Meisters. Ich denke, das verdient durchaus ein paar Prügel."

Nachdem er gesprochen hatte, entstand eine Pause. Jonathan versuchte nachzudenken, was er antworten wollte, doch es gelang ihm nicht, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Sollen wir?" hörte er da wieder die Stimme des anderen. Jonathan wollte etwas sagen, blieb aber stumm. Dafür wandte er sich von Lucius ab, beugte den Oberkörper leicht nach vorne und stützte sich mit den Händen auf der Kante seines Pults ab, die Beine stellte er breit neben einander. Lucius wartete nicht lange, bevor er mit seinem Werk begann. Jonathan begriff sofort, dass er in dem, was er tat, Übung besaß. Er führte den Riemen sicher, die Schläge waren präzis und mit wohl dosierter Kraft ausgeführt. Ja, es schien Jonathan sogar, als würde Lucius absichtlich den Bereichen seines Rückens größere Aufmerksamkeit widmen, die er selbst schlecht erreichen hatte können.

„Ist es dem Herrn so recht?" erkundigte sich Lucius mit einer Mischung aus ehrlichem Wohlwollen und Ironie.

Jonathan wollte im Scherz antworten, aber dafür hatte der Schmerz schon zu sehr Besitz von ihm ergriffen und so gelang ihm nur ein gepresstes Ja. Allmählich begriff Jonathan, dass er nichts mehr tun musste, als zu ertragen, was mit ihm geschah, und er empfand das als eine Art Erleichterung. Jetzt passiert alles von selbst, sagte er sich, so wie es sein soll. Das einzige, was er noch beitragen konnte und was er zugleich von sich selbst verlangte, war keine Schwäche zu zeigen. Aber darin war Jonathan geübt und so hörte man außer dem Klatschen des Lederriemens nur den etwas lauteren Atem von zwei jungen Männern – von dem einen, dem die Prozedur zunehmend Anstrengung abverlangte, und von dem anderen, der mit seiner Beherrschung rang.

Je länger Lucius fortfuhr, desto weniger war Jonathan allerdings davon überzeugt, dass er das, was gerade geschah, wirklich wollte. Die anfängliche Erleichterung, erreicht zu haben, was er für angemessen und notwendig empfunden hatte, war ebenso verflogen wie das erste beinahe noch angenehme Brennen der Haut. Längst hatten die Schläge seinem Rücken so zugesetzt, dass er meinte, die Prügel kaum mehr ertragen zu können. Natürlich hätte es nur ein Wort oder vermutlich sogar weniger gebraucht und Lucius hätte sofort aufgehört, doch dafür war Jonathan zu stolz.

Immerhin gelang es ihm nun aber besser, klar zu denken, und mit einem Mal wusste er, dass das Ganze eine Dummheit war. Er wusste, dass er nicht gezüchtigt werden wollte, weder von seinem Vater, noch von eigener Hand oder von sonst jemandem. Und er begriff, dass kein Schmerz der Welt, wenn er ihn auch auf sich zu nehmen bereit wäre, etwas verbessern konnte. Wenn Lucius fertig ist, sagte er sich und hielt dabei kurz den Atem an, gibt es für mich nur eines, das ich tun muss. Ich gehe zurück nach Jerusalem und ich werde mein Leben dafür hingeben, gut zu machen, was sich irgendwie wieder gut machen lässt.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt