Demut

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Nachdem es Silas also gelungen war, Nayla mit seinem Versprechen zumindest einigermaßen zu beruhigen, nahmen die Dinge wieder ihren normalen Lauf. Nayla ließ die übrigen Sklaven hereinkommen, wechselte mit Silas noch ein paar belanglose Sätze und entließ ihn kurz darauf. Ihr Blick war besorgt, ihre Stimme ernst, und auch Silas selbst spürte bei jedem Schritt, mit dem er sich vom Haus des Harendotes entfernte, stärker die Last der bevorstehenden Begegnung. Er nahm den Weg, den er jeden Tag ging, passierte den Königspalast, das Gymnasium und den Tempel der Athena, doch anders als sonst hatte er kein Auge für die prächtigen Bauwerke. Seine Gedanken, seine Wahrnehmung, seine Gefühle, alles drehte sich um einen einzigen Mann: Anek. Während er ging, war es Silas, als müsste er die Szenen von damals wieder und wieder erleben. Es war sinnlos zu leugnen: Er hatte Angst. Noch bevor er die Werft erreicht hatte, bereute er bereits, Naylas Angebot ausgeschlagen zu haben.

Natürlich, Harendotes vertraute auf Silas und wäre schwer für die Pläne seiner Tochter zu gewinnen gewesen. Doch Nayla war unnachgiebig und Silas wusste, dass sie nicht aufgegeben hätte, ihren Vater umzustimmen, bis er ihr gelungen wäre, Silas in Sicherheit zu bringen. Auch wusste er, dass die Möglichkeit noch immer bestand. Er brauchte nur umzudrehen und seine Herrin um Hilfe zu bitten. Doch daran hinderte ihn sein Stolz. Dann nämlich hätte Silas zugeben müssen, dass er sich vor der Strafe fürchtete, vor dem Schmerz und vor dem Gefühl, Anek ausgeliefert zu sein. Die Vorstellung davon aber, was Nayla dann von ihm denken müsste, war ihm noch unerträglicher als die Erwartung der Willkür, die der junge Herr mit ihm treiben würde.

Silas beschloss also, dem Warten auf das Unausweichliche die Unbarmherzigkeit zu nehmen, indem er sich ganz und gar der Arbeit widmete. Damit verging der Tag, der Abend und auch der nächste Tag. Am Morgen des dritten Tages erreichten die Schiffe den Nilhafen. Silas war bereits am Weg zum Hafen, als er die von Maultieren gezogenen Karren und Wagen über die Hauptstraße auf den Palast des Harendotes zukommen sah. Einen Moment lang überlegte er, ob er verpflichtet war umzukehren, kam aber schnell zum Schluss, dass er der Reisegesellschaft nicht unbedingt begegnet sein musste.

Noch ein paar Stunden Schonfrist, sagte sich Silas, doch der Gedanke vermochte ihn nicht zu trösten. Während er mit den Hafenarbeitern sprach und die neu eingetroffenen Waren musterte, war er unkonzentriert. Ohne dass er es wollte, schweifte seine Aufmerksamkeit immer wieder ab, und auch wenn er wusste, dass die Narben auf seinem Rücken gefühllos waren wie ein Stück totes Fleisch, war es ihm, als spürte er noch immer das Brennen der Peitschenstriemen.

Am Abend schließlich wartete er wie üblich gemeinsam mit Zebah vor den Herrschaftsräumen, dass Harendotes sie rufen und sich einen Bericht von den Geschehnissen am Hafen abstatten lassen würde. Normalerweise war dies für Silas ein Moment großer innerer Ruhe und Zufriedenheit. Denn sein Herr begegnete ihm mit Wohlwollen und die Gespräche waren stets angenehm. Auch war Silas nach dem abendlichen Report im Grunde seiner Verpflichtungen entbunden, konnte sich mit den anderen Haussklaven zum Abendessen setzen oder sich in seine Kammer zurückziehen.

Doch heute war es anders. Silas trat nervös von einem Bein auf das andere, seine Handflächen waren von kaltem Schweiß benetzt und sein Magen hatte sich derart zusammengekrampft, dass er kaum aufrecht stehen konnte. Endlich wurde er hereingebeten. Der Raum war unverändert und auch Harendotes verhielt sich, wie er es für gewöhnlich tat. Doch Silas selbst war unkonzentriert und fahrig, mehr als einmal verlor er den Faden, und als sein Herr ihn auf die eingetroffenen Güter ansprach, musste er ihn bitten, den Wortlaut der Frage zu wiederholen, denn er hatte Harendotes nicht richtig zugehört. Als die Unterredung beinahe beendet war, ging ohne Vorwarnung die Tür auf und ein Mann trat ein.

Silas musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es kein anderer als Anek sein konnte. Kurz wurde ihm schwindlig. Er hatte das Gefühl, als würde eine übergroße Klaue unerbittlich nach seinem Herzen greifen und es zwischen ihren Krallen zerquetschen. Mechanisch warf er sich auf den Boden und huldigte Anek, wie es für einen Sklaven üblich war.

„Schau, schau", bemerkte Anek höhnisch und trat Silas dabei mit der Schuhspitze in die Rippen, „der junge, begabte Grieche ist auch hier."

Silas musste einen Moment lang die Luft anhalten, um den Schmerz vorbeigehen zu lassen. „Ich bin nur ein geringer Diener meines Herrn", erwiderte er und bemüht sich dabei, seine Stimme unterwürfig klingen zu lassen, frei von jedem Stolz.

„Silas ist mir in der Tat eine große Hilfe", meinte Harendotes freundlich und Zebah murmelte etwas, das wie eine Zustimmung klang. Aus den Augenwinkeln konnte Silas beobachten, wie sich Harendotes und sein Buchhalter von ihnen abwandten. Auch Anek musste das bemerkt haben, denn sowie er sich von seinem Vater unbeobachtet fühlte, trat er noch ein zweites Mal deutlich fester zu. Silas konnte nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken.

„Auch ich hatte bereits mit ihm zu tun", stellte Anek süffisant fest. „Ich würde mich gerne mit dir unterhalten, Silas." Noch bevor Silas antworten konnte, fügte er scharf hinzu: „Steh auf!" 

Silas befolgte den Befehl, blieb aber in einer leicht gebückten Haltung stehen, die Augen auf den Boden gerichtet. Von Nayla wusste er, dass Anek in letzter Zeit schwach war, seine Hände oft kraftlos, sodass er sie kaum bewegen konnte, und seine Zunge schwer. Er hätte gerne gesehen, ob die Gesichtszüge des Nehab von der Krankheit gezeichnet waren, doch er wagte es nicht aufzusehen. Anek packte ihn grob am Genick und schob ihn vor sich her. Silas wusste nicht, wohin sie gingen, bemerkte aber, dass vor ihnen die Türen geöffnet wurden. Irgendwann schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Der Griff an seinem Hals war unnachgiebig und seine Sprache war klar: Ich mache mit dir, was ich will, sagte die Hand und Silas spürte, wie sich seine ganze Welt verengte, auf Anek, den Schmerz und auf die Erwartung dessen, was geschehen würde.

Plötzlich ließ Anek ihn los. Jemand versetzte ihm einen heftigen Stoß mit einem harten Gegenstand, sodass Silas nach vorne stolperte und sich mit den Händen am Boden aufstützen musste. Anek lachte laut und boshaft. 

„Jetzt bist du schon da, wo du hingehörst", verhöhnte er ihn und trat ihn dabei noch einmal. „Sag, wie ist es dir bei meinem Vater ergangen?"

„Sehr gut, Nehab", erwiderte Silas demütig und Anek lachte wieder laut auf, jedoch diesmal voller Genugtuung.

„Einen sanfteren Herrn kann sich ein Sklave wohl nicht wünschen", spottete er. „Aber ich fürchte, manch einer braucht etwas mehr Disziplin. Habe ich nicht Recht?"

„Ja, Nehab", antwortete Silas gehorsam. Er wusste nicht, ob es die Angst war oder die Wut, was seinen Brustkorb mehr erbeben ließ. Ekel erfüllte ihn, so sehr schämte er sich für seine eigene Unterwürfigkeit.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt