O tempora, o mores!

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Nachdem der Knecht einen Teller mit Datteln und Oliven neben Jonathan abgestellt und sich dafür den unwilligen Blick seines Herrn zugezogen hatte, verließ er rasch den Raum, und Josephus setzte von neuem zu klagen an: „Anfang dieses Jahres, mein Junge, habe ich drei Karawanen mit Seide und Öl verloren. Beim vorletzten Kontrollposten auf der Via Appia war noch alles in Ordnung, und dann, ein paar Meilen vor Rom, waren die Karawanen verschwunden. Keine Spuren, niemand wusste etwas. Ist das nicht unfassbar?" Jonathan zeigte keine Reaktion, denn er hatte gelernt, dass der Alte auf seine Zustimmung keinen besonderen Wert legte. Mit oder ohne Jonathans aktiver Beteiligung konnte er seine Ausführungen stundenlang weiterspinnen, die gelegentlich eingestreuten Fragen waren lediglich eine Art Stilmittel, die keiner Antwort bedurften. Am liebsten jammerte Josephus über seine finanziellen Verluste, doch Jonathan hatte eher den Eindruck, dass der Alte das viele Geld, das er angehäuft hatte, in seinem Leben unmöglich ausgeben würde können, und sein Mitleid hielt sich demnach in Grenzen.

„Ich sage dir, Jonathan, Rom bildet sich ein, den Barbaren die Kultur zu bringen, aber dabei sind die Römer selbst die größten Barbaren. Stell dir vor, letztes Jahr hat der Senat entschieden, ein paar Männer zu verbannen. Und zwar nicht irgendwelches Gesindel. Nein, es waren reiche, berühmte, einflussreiche Politiker. Und was ist mit Pompeius? Er hat zwar Jerusalem erobert, aber hier in Rom macht er den Mund nicht auf. Die Politik hat alle verweichlicht." Jonathan nahm einen Bissen von den Köstlichkeiten, die ihm seine Tante hatte bringen lassen. Dabei passte er auf, dass ja kein Krümel auf das Pergament fiel. Denn dieser Sorge des Alten war der strenge Blick geschuldet, mit dem Josephus zuvor seinen Diener bedacht hatte. Als Josephus die Achtsamkeit bemerkte, mit der Jonathan von den Speisen nahm, entspannten sich seine Züge merklich.

„Du bist ein so aufmerksamer junger Mann", lobte er seinen Neffen.

„Das hat mir Vater beigebracht", erwiderte Jonathan und war sich dabei dessen bewusst, dass Josephus den bitteren Unterton in seinen Worten nicht richtig deuten würde können. Doch der Alte fragte zum Glück nicht nach. Seine Gedanken kreisten mittlerweile um den Volkstribun Clodius.

„Ein Verrückter!", rief Josephus aus. „Er hat Cicero verbannen lassen, den einzigen, der das Volk lenken konnte. Cicero war einer von uns. Clodius ist ein Dummkopf. Er will umsonst Getreide verteilen lassen, aber wer soll das bezahlen? Rom hat ganz Italien geplündert, jetzt wird Spanien ausgebeutet und wie soll es weiter gehen, welches Volk wird als nächstes die Rechnung bezahlen müssen? O tempora, o mores!"

Jonathan schob das zierliche Tablett zur Seite. Er hatte mit einem Mal keinen Appetit mehr. Zwar mochte er die Erzählungen von Cicero, von seinem Aufstieg, der ihn bis zum Konsulat brachte, dann die Verbannung und schließlich seine triumphale Rückkehr, die gerade erst ein paar Monate zurücklag. Ähnlich wie sein Onkel konnte er Ciceros Eloquenz und seiner Fähigkeit, die Massen zu lenken, durchaus etwas abgewinnen. Doch bei dem Wort Ausbeutung hatte Jonathan unwillkürlich an Judäa denken müssen, an die Willkür, welche die Römer dort mit dem jüdischen Volk trieben und gegen die er versucht hatte sich aufzulehnen.

„Zum Glück ist er jetzt wieder da", meinte Josephus unbeirrt, konnte er die Gedanken seines Ziehsohnes doch nicht im Geringsten erahnen. „Dass Pompeius seit Neuestem die Getreideversorgung organisiert, ist bestimmt sein Verdienst. Ja, ja, mit Pompeius als Curator Annonae wird sich vieles bessern. Er ist ein Mann, der sein Geschäft versteht. Nicht wie der vollgefressene Crassus, zu viel Geld und zu wenig Hirn, oder dieser Caesar, ein Mann ohne Vergangenheit. Das einzige, was er beherrscht, sind Intrigen und Meuchelmorde."

Jonathan sah nachdenklich von seiner Arbeit auf. Er wusste, dass Josephus sich durch und durch als Römer fühlte und nichts mehr liebte als die hohe Diplomatie. Trotzdem hatte er als Jude keine Möglichkeit, den Cursus Honorum zu beschreiten und als Senator in der Politik mitzumischen. Josephus hatte diesen Umstand einmal einen Vorteil genannt, aber Jonathan war sich im Grunde sicher, dass ihn nichts mehr schmerzte als sein angebliches Privileg.

„Wenn schon die Politiker Verbrecher sind, mein Junge", empörte sich sein Onkel, „wie sollte es beim einfachen Volk besser aussehen? Die Straßen von Rom sind mittlerweile unsicherer als je zuvor, besonders in der Nacht." Jonathan seufzte leise, denn allmählich begannen ihn die Ausführungen seines Onkels zu ermüden. Mit einem verstohlenen Blick zum Fenster prüfte er den Sonnenstand, um zu sehen, ob es nicht langsam Zeit wäre, sich von Josephus zu verabschieden und in Richtung Rhetorik-Schule aufzubrechen. Doch der Winkel des einfallenden Lichtes war noch zu flach und so blieb Jonathan nichts anderes übrig, als eine weitere Wachstafel vom Stapel zu nehmen und mit seiner Arbeit fortzufahren. „Clodius selbst finanziert die Straßenbanden, damit sie redliche Bürger ausrauben oder sogar töten", schimpfte sein Onkel.

„Aber warum sollte ein Volkstribun so etwas tun?", wandte Jonathan ein und ärgerte sich im selben Moment über seine Unvorsichtigkeit, denn Josephus zu widersprechen konnte sehr anstrengend sein. Tatsächlich legte der alte Mann sofort seine Arbeit beiseite, kam ein paar Schritte auf ihn zu und stellte sich breitbeinig vor sein Tischchen hin.

„Das fragst du?", erwiderte er und es war ihm deutlich anzumerken, wie sehr er es genoss seinen unwissenden Neffen zu belehren. „Das ist doch sonnenklar! Auf diese Weise setzt er den Senat unter Druck." Josephus beobachtete Jonathan eine Weile und da er in seinen Zügen wohl noch nicht die Zustimmung finden konnte, die er sich wünschte, fuhr er eindringlich zu dozieren fort: „Es geht um die Mehrheit der Stimmen, das weißt du ja. Gewählt wird einmal im Jahr. Wenn die Menschen unzufrieden und verunsichert sind, dann entscheiden sie sich für Vertreter, die eine konservative Politik betreiben, und die bestimmen dann Quästoren, Ädile und Prätoren, die ebenfalls konservativ sind, und alles bleibt beim Alten." Er legte eine kleine Kunstpause ein. „Die schöne Republik bleibt uns erhalten."

Jonathan nickte stumpf. Sein Onkel war inzwischen um den Tisch herumgegangen und sah ihm wohlwollend über die Schultern. „Und deshalb, mein Junge, solange Verbrecher wie Clodius an der Macht sind, meide die Dunkelheit, meide die schmutzigen Viertel und meide den Pöbel."

Jonathan zuckte hilflos mit den Schultern. Was ist schon mein eigenes Wohlergehen, sagte er sich traurig. Meine Freunde sind in den Scheol hinabgestiegen, kein Wort kommt mehr über ihre Lippen. Und Tabitha... Jonathan verbat sich den Gedanken. Er tunkte den Griffel in die Tinte und versuchte sich zu konzentrieren. Doch vor seinen Augen verschwamm das Schriftbild und während er noch versuchte zu erkennen, an welcher Stelle er zu schreiben aufgehört hatte, tropfte etwas Tinte auf das frische Pergament. Bestürzt nahm er eine Prise Sand aus dem zierlichen Schüsselchen, das die Diener jeden Tag neu füllen mussten, und versuchte damit die frische Tinte zu binden und auf diese Weise ein tiefes Eindringen in das gebleichte Leder zu vermeiden.

„Ein Missgeschick kann jedem passieren", tröstete ihn Josephus gutmütig und fuhr ihm dabei freundschaftlich durch das Haar. Anstatt mich zu bestrafen, weil ich das wertvolle Pergament verdorben habe, ging es Jonathan durch den Kopf und er spürte eine plötzliche heftige Wut, von der er nicht sagen konnte, gegen wen sie sich richtete.

„Du solltest strenger zu mir sein", antwortete er trotzig.

„Aber nein, mein Junge", erwiderte Josephus ruhig und gutmütig. „Ganz im Gegenteil. Du solltest nicht so streng mit dir selbst sein. Hör zu, ich will dir noch eine lustige Begebenheit erzählen."

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt