Heimkehrer

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Es war nicht das erste Mal nach dem gewaltsamen Tod von Jetur, dass Jonathan seine Augen wieder öffnete. Auch auf dem Weg von Para nach Jerusalem war er ein paar Mal kurz zu sich gekommen, hatte das holprige Rattern der Räder gespürt, die Rufe der Männer gehört, mit denen sie die Esel angetrieben hatten, den Himmel über sich gesehen. Es muss spät am Nachmittag sein, hatte er gedacht, denn die Sonne hatte sich bereits tief in den Westen zurückgezogen. Und auch zuhause, als sie ihn in das Atrium getragen hatten, war er für einen Augenblick wach geworden. Die besorgte Stimme der Mutter, die sanften Küsse seiner Schwestern, die seine Stirn, die Wangen, das Haar bedeckt hatten, die Aufregung unter den Dienstboten, all das hatte Jonathan wahrgenommen. Und doch hatte er weder die Kraft noch den Mut besessen, sie anzusprechen. Dann hatte er geschlafen. Er wusste nicht, wie lange, aber irgendwann hatte der Hunger ihn die Augen öffnen lassen. Die Dienerin neben seinem Bett hatte ihm zu essen und trinken gegeben, seine Brust behutsam mit Öl gesalbt. Und sie hatte ihm auch versprochen, dem Hausherren nicht zu erzählen, dass sein Sohn bei Bewusstsein war. Danach waren ein weiterer Tag und eine weitere Nacht vergangen. Als er am Morgen des nächsten Tages erwachte, wusste Jonathan, dass er die Begegnung mit dem Vater nicht länger aufschieben konnte. Nicht zuletzt der Dienerin willen, für die es immer schwieriger wurde, den Hausherren zu täuschen.

„Mara" sagte er schwach. „Ich danke dir von Herzen für deine Verschwiegenheit." Das Mädchen senkte schüchtern den Kopf und schien dabei zu erröten. „Aber jetzt sollst du meinem Vater sagen, dass ich bereit bin ihn zu empfangen."

Die Dienerin nickte, wandte sich aber nicht sofort zum Gehen. „Seid ihr sicher, Herr?" fragte sie besorgt und fügte hinzu: „Wollt ihr nicht noch ein wenig zu Kräften kommen."

Jonathan schüttelte den Kopf und ein Beben von Schmerzen durchlief seinen Körper. „Ich kann mich nicht ewig vor ihm verstecken", erwiderte er matt. Und als er die Unsicherheit in ihrem Gesichtsausdruck sah, zwang er sich zu einem aufmunternden Lächeln. „Er wird mir schon nicht den Kopf abreißen."

Mara zuckte hilflos mit den Schultern, verbeugte sich aber und verließ gehorsam den Raum. Kurz war Jonathan allein. Er hätte die Augen wieder schließen wollen und zwar am besten für immer. Doch das war nicht möglich. Also richtete er seinen Blick auf die weiß getünchte Wand und suchte sich einen Punkt, eine kleine Unvollkommenheit, die ihm ein wenig Halt würde geben können.

„Du bist ein elender Wurm. Ein verdammter Nichtsnutz!" Mit diesen Worten betrat sein Vater den Raum. Seine Stimme war aufbrausend, lauter als sonst. „Was habe ich getan, dass mich Gott mit so einem Sohn straft!" schrie Schlomo und Jonathan spürte, wie die Mutlosigkeit in ihm noch unerträglicher wurde. „Ich verfluche den Tag, an dem ich dich gezeugt habe. Du bist eine Schande für mich, für unsere ganze Familie. Dich diesen Verbrechern anzuschließen, einen römischen Vorposten überfallen. Was die Leute über uns reden. Und was denkst du, wie ich vor unserem Hohenpriester dastehe? Meinst du, dass Hyrkan erfreut sein wird, wenn er von deinem lächerlichen Bubenstreich erfährt?"

Die letzten Worte hatten Jonathans Augen von der weißen Wand fortgerissen. Dein lächerlicher Bubenstreich, wiederholte er im Stillen. Jonathan konnte nicht anders, er musste seinem Vater ins Gesicht sehen. Schlomos Züge waren zu einer Fratze entstellt. Wie so oft, wenn er wütend ist, sagte sich Jonathan. Die Lippen waren unnatürlich angespannt, die Mundwinkel nach unten gezogen, die Augen hart und verbissen. Er sieht aus wie der Tod, hatte Silas  einmal gesagt, als sie noch Kinder waren. Und: Ich habe Angst vor ihm. Nicht weil er in jedem Raum eine Rute stehen hat, sondern weil er ein so schreckliches Gesicht machen kann. Silas, dachte Jonathan und der Name des Freundes tröstete ihn ein wenig. Doch im selben Augenblick beschlich ihn eine schreckliche Ahnung.

„Was ist mit Silas?" fragte er und betete dabei innständig, dass die Antwort seine Befürchtungen widerlegen würde.

„Das ist also das einzige, was dich interessiert?" schrie Schlomo und baute sich drohend vor Jonathan auf. „Was du deiner eigenen Familie angetan hast, das kümmert dich nicht, undankbarer Balg!"

„Ist er am Leben, Vater?" insistierte Jonathan und wusste dabei nicht, ob sein stockender Atem von der Anstrengung herrührte, die ihn das Sprechen kostete, oder von der Erregung.

„Er ist tot. Wie Jetur und alle anderen Gefangenen auch", antwortete Schlomo, etwas ruhiger.

„Bin ich..." setzte Jonathan zögernd an.

„Ja!" Das Wort war mit ungeheuerlicher Wut herausgeschrien. „Du bist der einzige Gefangene, der noch am Leben ist. Du hättest mein Nachfolger werden können, du hättest alles haben können. Jerusalem wäre dir zu Füßen gelegen. Stattdessen habe ich meinen ganzen Einfluss und eine nicht unbeträchtliche Menge an Gold einsetzen müssen, um dein bloßes Leben zu retten."

„Das hättet ihr vielleicht nicht tun sollen", erwiderte Jonathan trotzig und wusste dabei selbst nicht, ob er den Vater provozieren wollte oder ob die Worte aus seinem tiefsten Inneren kamen, von einem verborgenen Ort, der mit dem Leben abgeschlossen hatte.

„Du erbärmlicher Tor!" Schlomo tobte. Er kam noch näher an Jonathan heran und setzte mit dem rechten Arm zu einer Bewegung an, die seinen Sohn unwillkürlich zusammenzucken ließ. Doch der Schlag blieb aus. Worauf wartet er, dachte Jonathan und schielte aus den Augenwinkeln in das Eck, wo die Rute stand.

„Ja", Schlomo lachte zynisch. „Du kannst ruhig in den Winkel schauen, mein lieber Sohn." Dabei stützte er sich mit beiden Händen auf Jonathans Schultern. Jonathan schrie auf vor Schmerz und rang mit dem Atem. Schlomo ließ ihn los und trat einen halben Schritt zurück.

„Weißt du, was ich tun sollte?" herrschte er ihn an. „Ich sollte dich so verprügeln, dass du nicht mehr kriechen kannst."

Jonathan spürte die Angst in sich aufsteigen und er ärgerte sich. Ich habe gekämpft, dachte er, ich habe meine Brüder sterben sehen und meine Feinde getötet. Und ein paar Worte meines Vaters bringen mich zum Zittern. Wie konnte er diese jämmerliche Furcht überwinden? Eine freche Antwort geben? Jonathan zögerte. Es war jetzt nicht der Moment, den Zorn des Vaters noch weiter anzustacheln, das wusste er. Denn ohne zur Rute zu greifen, würde er sich nicht beruhigen. Wenn die Züchtigung aber einmal begonnen hätte, würde sich die Wut des Vaters irgendwann in Strenge wandeln, später in eine Art selbstgefällige Zufriedenheit. Dann würde er aufhören, Jonathan zu beschimpfen, sich nach vollbrachtem Werk stattdessen gönnerhaft die Hände küssen lassen und den Sohn schließlich zum gemeinsamen Gebet auffordern. Jonathan biss sich nervös auf die Unterlippe und der Ärger über seine eigene Schwäche wurde dabei noch größer. Gerade überlegte er, welche Antwort den Vater am meisten in Rage bringen würde, da riss ihn der aus seinen Gedanken.

„Bist du nicht in einer guten, in einer glücklichen Familie geboren? Ist es nicht ein wohlgeordneter Haushalt, den ich dir hinterlassen hätte? Wäre es so unerträglich gewesen, mein Nachfolger zu sein, am Altar Opfer darzubringen und einer der ausgewählten Priester im Tempel zu sein?" Kurz hielt Schlomo inne. Auf ein Handzeichen rückten zwei Diener einen Sessel näher an Jonathans Bett heran und sein Vater nahm voller Würde darin Platz.

„Und was ist mit der Kleinen? Mit dem Mädchen, das ich für dich ausgewählt habe? Wäre es so fürchterlich gewesen sie zu heiraten und eine Familie mit ihr zu gründen, gottgefällig und gut?"

„Nein, es wäre wunderschön gewesen", sagte Jonathan und spürte wie seine Augen beim bloßen Gedanken an Tabitha feucht wurden. „Aber ein Mann darf nicht nur an sich selbst denken, an sein eigenes kleines Glück und das seiner Familie." Mit einem Mal war seine Stimme sicher, fast kämpferisch. Er sah Schlomo fest in die Augen und da sie nun beinahe auf einer Ebene waren, konnte er die Verachtung im Blick seines Vaters noch deutlicher erkennen. „Wie könnte ich bei meiner Frau liegen, während das Volk Israel von fremden Herrschern unterdrückt und geknechtet wird", schrie er plötzlich unbeherrscht, doch der Schmerz, den die lauten Worte in seiner Brust explodieren hatten lassen, brachte ihn augenblicklich zum Verstummen.

„Nun, du musst es wissen", erwiderte sein Vater und seine Stimme triefte vor Sarkasmus. „Du bist ja ein großer Prophet und Lehrer, mein Sohn. Nur dass dein Mädchen bald bei einem anderen liegen wird."

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt