Festung Alexandreion, Frühjahr 56
Nachdem Silas mit den anderen Rekruten Alexandrien verlassen hatte, waren sie fünf Monate im Negev geblieben, wo Peitholaos das raue Klima und die karge Vegetation der Wüste dazu genützt hatte, die bunt zusammen gewürfelten Soldaten einerseits im Kampf auszubilden, andererseits an Entbehrungen zu gewöhnen. Silas tat sich damit nicht schwer, denn das Leben als Sklave hatte ihn gelehrt genügsam zu sein. Er brauchte wenig Nahrung und wenig Schlaf, rastete selten und hörte auch dann noch nicht auf, mit dem Schwert auf Strohpuppen einzuschlagen, wenn die anderen bereits im Schatten ihrer Zelte Zuflucht vor der sengenden Mittagssonne suchten. Mehr als einmal hatte ihn Peitholaos für seine Zähigkeit gelobt und noch öfter hatte er ihm seine Wertschätzung im Stillen mit einem anerkennenden Blick zum Ausdruck gebracht. Das Glück, das Silas dann verspürte, war unbeschreiblich. Denn er empfand für den Offizier nicht nur Dankbarkeit, sondern auch größte Bewunderung.
Von den Erzählungen der Männer hatte er einiges über seine Vergangenheit erfahren. Silas wusste, dass Peitholaos der mächtigste Offizier in der Armee des Hohenpriesters Hyrkan gewesen war, jedoch seinen Reichtum und seine Stellung aufgegeben, ja sogar seine Familie verlassen hatte, um seiner Überzeugung zu folgen und gegen die Römer zu kämpfen. Doch es war längst nicht nur das, was Silas von seinem Vorgesetzten gehört hatte, das ihn diesen verehren ließ. Es waren auch sein Auftreten, die Klarheit, mit der er seine Befehle erteilte, dabei aber zugleich geduldig war und gütig, die Art, wie er sprach, darauf bedacht war, seine Männer nicht zu erniedrigen, die Sicherheit, mit der er jede beliebige Waffe in der Hand zu führen verstand. Wenn Peitholaos redete, hing Silas an seinen Lippen, und wenn Peitholaos ihn beobachtete, tat er alles, um sein Wohlwollen zu erregen.
Von seinen Leuten waren Peitholaos vor allem einfache Soldaten gefolgt, die Unteroffiziere dagegen, mit Ausnahme seines Vertrauten Malichos, zum größten Teil Hyrkan und damit der Besatzungsmacht treu geblieben. Da Peitholaos die Struktur der römischen Armee nicht kopieren wollte, hatte er keine neuen Offiziere ernannt. Sehr wohl aber gab es einzelne Männer, denen er wichtigere Aufgaben zuteilte und sie beispielsweise die Kampfausbildung der Rekruten leiten ließ. Auch unterrichtete er einige Soldaten selbst und zwar jene, die er bereits aus früheren Schlachten kannte und die sich als besonders geschickt erwiesen hatten.
Silas war einer der letzten, die zur Armee des Aristobulus dazu gestoßen waren, und hätte daher sicher nicht zu dieser privilegierten Gruppe zählen dürfen. Da er in Jerusalem aber gemeinsam mit Jonathan sowohl im Fechten als auch im Ringen ausgebildet worden war, fielen seine Fähigkeiten bald auf, und so wurde er schon nach kurzer Zeit in den Kreis derer aufgenommen, die unter der Anleitung des Peitholaos ihre Kampftechnik verfeinern sollten. Das hob zum einen seine soziale Position, zum anderen brachte es ihm Neid ein und nährte zugleich das Gerede um seine Herkunft. Schließlich trug der Umstand, dass sich Silas trotz Hitze und Anstrengung nie mit nacktem Oberkörper zeigte, das Seine dazu bei, dass sich das Gerücht, er sei ein freigekaufter Sklave, hartnäckig hielt.
Doch Silas kümmerte sich nicht um das Getuschel der anderen, er konzentrierte sich auf das, was von ihm erwartet wurde, und wählte bewusst aus, mit wem er sich über das Notwendigste hinaus unterhalten wollte. Als sie den Negev schließlich mit rund tausend Mann verließen, bei Dunkelheit durch die nabatäischen Gebiete zogen und durch die judäische Wüste bis in die Jordansenke vorrückten, erfüllte ihn das Bewusstsein, wieder in seiner Heimat zu sein, mit solchem Enthusiasmus, dass er von den Gesprächen um ihn herum ohnehin kaum etwas mitbekam. Außerdem hatte er nun mehr zu tun, denn da er sich in der Gegend nordöstlich von Jerusalem gut auskannte, wurde er immer wieder als Späher eingesetzt. Peitholaos wollte die Kräfte seiner verhältnismäßig kleinen Truppe nämlich nicht in sinnlosen Einzelgefechten mit römischen Patrouillen verschleißen. Vielmehr war es sein Ziel, die römischen Vorposten geschickt zu umgehen und unbehelligt nach Alexandreion vorzudringen, wo Aristobulus und seine beide Söhne Alexander und Antigonos bereits damit beschäftigt waren, mit rund viertausend Männern die vor einem Jahr geschliffene Festung sowie die am Fuß des Berges gelegene Siedlung wieder aufzubauen.
Während Antigonos und sein Vater die Arbeiten an der Wehranlage organisierten, war Alexander damit beschäftigt, Proviant für Menschen und Tiere herbeizuschaffen, Waffen zu besorgen und Facharbeiter anzuheuern. Als Peitholaos mit seinen Männern eintraf, übertrug ihm Antigonos die Verantwortung für den Wiederaufbau der Festung. Alexandreion lag nördlich von Jericho am westlichen Rand des Jordantals. In ihren besten Zeiten war die Festung erhaben am Gipfel des Berges Sartaba gelegen, ein im Süden schmal einsetzender Bau, der sich in der Form eines schmalen langen Blattes über den Gipfel nach Norden hin verbreiterte. Der Pfad, der sich die Abhänge hinaufwand, war in seinem letzten Wegstück als Tunnel ausgebaut worden und hatte unmittelbar in dem massiven Mauerwerk der Wehranlage gemündet. Vor gut einem Jahr aber war die Burg bis auf das Fundament geschliffen worden, wobei die Römer die aus den Mauern herausgebrochenen Steine der Einfachheit halber die Steilhänge hinunter rollen hatten lassen.
Die Aufgabe von Silas und den übrigen Soldaten bestand nun im Wesentlichen darin, das Baumaterial auf Eselkarren oder am Rücken wieder den Berg hinaufzuschaffen. Am Festungsberg stand ihnen dann sowohl eine Zisterne als auch eine eigene Quelle zur Verfügung, mit deren Wasser sie Mörtel anrühren und die Mauern wiederaufbauen konnten. Komplizierter war es dagegen, das nötige Bauholz herbeizuschaffen. Denn die Gegend war unwirtlich und hatte nur spärlichen Baumbestand. Es blieb ihnen daher nichts anderes übrig, als in der Jordansenke Palmholz zu schlagen und es mit Maultieren zur Festung zu befördern. Trotz den dadurch entstehenden Verzögerungen kamen sie alles in allem zügig voran. Peitholaos hatte die unterschiedlichen Tätigkeiten klug aufgeteilt und achtete darauf, dass niemand von der straffen Struktur, mit der er den Wiederaufbau organisierte, abwich. Die Männer arbeiteten willig und verausgabten sich mehr, als man von ihnen gefordert hätte. Das mochte zum einen an der Autorität ihres Befehlshabers liegen, zum anderen daran, dass sie wussten, dass nichts anderes als die Mauern, an denen sie gerade bauten, ihr Leben vor den Römern würde schützen können.
Mit jedem Tag also wurde Alexandreion mehr zu der Festung, die sie einmal gewesen war. Und doch wusste keiner von ihnen, wie viel Zeit ihnen noch für die Instandsetzung bleiben würde. Da Silas am Abend stets der letzte war, der sich am Brunnen wusch, hatte er bereits mehrfach beobachtet, mit welch sorgenvollem Blick Peitholaos, wenn die Dämmerung hereinbrach, die Jordansenke betrachtete. Die Feinde konnten überall sein und sie konnten jederzeit angreifen. Silas hätte gerne etwas Aufmunterndes zu seinem Heerführer gesagt, doch er wagte nicht ihn zu stören, geschweige denn ihn anzusprechen. Vielmehr begnügte er sich damit, sich selbst Mut zu machen. Noch eine Woche, dachte er, dann sind wir soweit, dass wir einer Belagerung standhalten könnten. Schließlich hatten die Außenmauern schon jetzt eine zweifache Mannshöhe erreicht, und die Quelle in der Mitte des Innenhofes würde sie in jedem Fall mit Wasser versorgen.
Silas hatte sich bis auf sein Subligaculum ausgezogen und wusch sich in aller Eile. Obwohl er wusste, dass er allein war, fühlte er sich wie immer unwohl, wenn sein Oberkörper nackt war, und er rechnete ständig mit der Möglichkeit, dass ihn jemand überraschen und seine Narben sehen könnte. Doch die anderen Soldaten saßen längst beim Essen oder vertrieben sich ihren freien Abend mit Würfelspielen. Noch nicht einmal die einsame Gestalt des Peitholaos war heute oben am Südturm auszumachen. Silas begann sich allmählich zu entspannen. Es ist keiner da, sagte er sich und genoss es zu spüren, wie das kühle Wasser den getrockneten Schweiß von der Haut löste. Es geht mir gut, fügte er innerlich hinzu. Dankbarkeit erfüllte ihn und zum ersten Mal seit langer Zeit begann er im Stillen einen Psalm zu beten. Hodekah adonaj, ki paditah napeschi mischschachat. Ich danke dir, Herr, denn du hast mich aus der Grube und aus der Hölle des Abgrundes zur Höhe der Ewigkeit gehoben.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...