Der Tag war bereits fortgeschritten, als Tabitha mit schnellen Schritten den Gang entlang auf den Speisesaal zuging. Martha hatte vom Markt kleine bemalte Tonperlen mitgebracht und sich große Mühe gegeben, diese in regelmäßigen Abständen in das Haar ihrer Herrin einzuflechten. Das Ergebnis konnte sich durchaus sehen lassen, allerdings hatten die beiden Dienerinnen deutlich länger gebraucht, als man hatte voraussehen können. Tabitha war sich nicht sicher, was Eleazar von der neuen, angeblich aus Ägypten stammenden Mode halten mochte, aber sie wusste, dass er es nicht schätzen würde, auf sie warten zu müssen, ganz besonders weil er sich seit seiner Verwundung in einer durch und durch düsteren Stimmung befand. Daher war sie zunächst erleichtert, als sie durch die geöffnete Flügeltür erkennen konnte, dass die Kline ihres Ehemannes leer stand. Ihr zweiter Blick allerdings fiel auf Meschach, der sie mit sorgenvoller Miene begrüßte.
„Wo ist mein Herr?", erkundigte sich Tabitha daher sofort und ihre Stimme klang ungewöhnlich schroff.
„Ich weiß es nicht", antwortete Meschach leise und senkte seinen Kopf noch etwas mehr, als er es ohnehin schon getan hatte. „Er hat das Haus in Richtung der Gärten verlassen, aber das ist Stunden her."
„Wie kann das sein?", gab Tabitha energisch zurück. Sorge und auch ein wenig Ärger schwangen in ihren Worten mit. „Habe ich nicht befohlen, dass mein Mann stets von einem Diener begleitet werden muss?"
Meschach nickte schuldbewusst. „Ezra war bei ihm. Aber der Herr hat ihn weggeschickt und Ezra hat nicht gewagt zu widersprechen."
Tabitha wandte sich von ihm ab und ging zielstrebig in Richtung des Eingangstores. Meschach folgte ihr in einer Distanz von ein paar Schritten.
„Als ich davon hörte, habe ich sofort vier Sklaven ausgeschickt, dass sie in den Gärten nach dem Herrn suchen und sich dabei unauffällig verhalten." Meschach beschleunigte seinen Schritt, denn Tabitha hatte schon die Terrasse erreicht, die den Übergang zwischen den mächtigen breiten Steintreppen und dem Herrenhaus markierte. „Sie haben ihn nicht gefunden", fügte er hinzu. „Ich bedaure..."
Tabitha blieb kurz stehen und drehte sich zu Meschach um. „Dich trifft keine Schuld", sagte sie schnell, doch auch ohne Überzeugung. „Ich werde den Herrn selbst suchen", rief sie ihm dann zu, bereits wieder beim Gehen.
Eilig nahm sie Stufe um Stufe, raffte die Tunika leicht, um sich nicht mit den Sandalen im langen Stoff zu verfangen. Dabei ermahnte sie sich immer wieder, dass es sich für eine Frau in ihrer Position nicht ziemte, wie eine einfache Magd die Treppen hinunter zu rennen. Doch zugleich wusste sie der Unruhe, die sie mit einem Mal verspürte, nichts entgegenzusetzen. Eleazar war ein Mann, der kein Problem damit hatte, ein Leben zu beenden. Das galt für das eigene Leben vermutlich im gleichen Maß wie für fremdes.
Endlich hatte sie den Garten erreicht. Zum Glück sind die Lichtverhältnisse gut, sagte sie sich, doch der Gedanke verschaffte ihr keine Erleichterung. Vor ihr erstreckte sich die weitläufige Anlage ihres Herrschaftssitzes. Sie war aufwändig gestaltet, Eleazars Sklaven hatten die Palmen, Agaven und Weinreben kunstvoll angeordnet. Dank eines ausgeklügelten Bewässerungssystems gediehen die Pflanzen prächtig. Doch nun, wo Tabitha ihren Mann suchen musste, nahmen sie ihr die Sicht. Welche Richtung sollte sie wählen? Sollte sie seinen Namen rufen, selbst wenn sie sich damit vor der Dienerschaft lächerlich machen würde? Er wird mir ohnehin nicht antworten, überlegte sie und zwang sich dabei, zumindest einen kurzen Augenblick innezuhalten. Der Pferdestall in der Nordflanke der Mauer, ging es ihr durch den Kopf. Der Speicher hat ein kleines Fenster mit einer Aussicht, die fast bis zur gegenüberliegenden Südseite reicht.
Tabitha wusste nun, was es zu tun galt. Der Weg zum Stall kostete sie Zeit, vor allem weil sie, während sie ging, in alle Richtungen Ausschau hielt. Bei der Nordmauer angelangt fand sie alles ruhig und ordentlich vor. Die Pferde fraßen, von den Sklaven war keiner zu sehen. Sie hatten ihr Tagwerk verrichtet und für die Nachtwache war es noch zu früh. Tabitha zog die Tunika noch höher und stieg schnell die schlichten Holzsprossen den Speicher hinauf. Die Luke war mit einem Laden verschlossen und Tabitha wollte sie schon in aller Eile aufstoßen, da bemerkte sie Eleazar, der auf ein paar Getreidesäcke gebettet an der Wand lehnte und ausdruckslos in ihre Richtung blickte. Der Stumpf seines rechten Armes hing wie leblos herunter, doch der Verband war sauber, keine Spuren von Blut. In der linken Hand, die durch eine an der Schulter und am Hals fixierte Schien stark in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt war, hielt er ein Messer, mit dem er offensichtlich schon mehrere Male auf die Holzleiste eingestochen hatte, welche die Getreidesäcke von dem schmalen Gang abtrennte, der zur Luke führte. Tabitha atmete erleichtert auf.
„Ihr seid unverletzt, gepriesen sei der Herr, sein Name währt ewig", stieß sie hervor, was sogleich ein boshaftes Grinsen auf Eleazars Lippen zauberte.
„Ihr seid wohl der einzige Mensch auf dieser Welt, der mir nicht den Tod wünscht", gab er kühl zurück, und als Tabitha nicht gleich reagierte, fügte er hinzu: „Das ist mir in den letzten Tagen klar geworden."
Tabitha schwieg noch immer, setzte sich aber zu Eleazar auf einen der Getreidesäcke und legte vorsichtig eine Hand auf seine Hüfte. Mit der anderen löste sie ihren Schal, denn jetzt, wo sie nicht mehr in Sorge um ihren Mann war, bemerkte sie erst, wie schwer und schwül die Luft war und dass die Hitze trotz der späten Stunde nur wenig nachgelassen hatte. Eleazar ließ ihre Berührung zu, fuhr aber damit fort, mit der Linken immer wieder das Messer in das Holz zu treiben. Die Bewegung vollzog sich nah an Tabithas Hand, aber sie blieb ruhig, denn sie wusste, dass er trotz der eingeschränkten Beweglichkeit sein Ziel nicht verfehlen würde.
„Ich bin keinesfalls die einzige," sagte sie schließlich, und als sie seinen fragenden Blick bemerkte, fuhr sie fort: „Denkt an Marc Anton, an Herodes oder auch an Kaleb."
Eleazar lachte kurz auf. Sein Lachen klang böse. „Alles Männer, denen ich von Nutzen bin", gab er grob zurück.
Tabitha schüttelte vorsichtig den Kopf und strich mit der Hand zart über den Stoff seiner Tunika, den rechten Oberschenkel entlang. „Ihr habt ein besonderes Talent, das Schlechte zu sehen", meinte sie.
„Die Wahrheit ist fast immer das Schlechte", erwiderte er. Die Bewegungen, mit denen er das Holz traktierte, waren inzwischen schneller und aggressiver geworden. „Aber bei euch", begann er, nachdenklicher als zuvor. „Bei euch ist es anders. Für euch wäre das Leben als Witwe viel besser als an meiner Seite. Ihr versteht es, den Haushalt zu führen, was ihr sogar im Krieg bewiesen habt. Die Dienerschaft liebt euch. Und wenn eines Tages euer Priester nach Jerusalem zurückkehren sollte, würde eurem Glück nichts mehr im Wege stehen."
Tabitha blieb eine Weile still. Sie betrachtete das Gesicht ihres Gatten. Im spärlichen Licht wirkte seine Haut fahl. „Wer sagt, dass ich ihn zurückhaben will?" entgegnete sie schließlich. „Jonathan hat mich verlassen."
Eleazar stach noch einmal kräftig mit dem Messer zu. Die Klinge steckte nun zu gut einem Drittel im Holz. Dann ließ er den Knauf los und griff nach ihrer Hand. „Er hat euch nicht verlassen, mein Täubchen", widersprach er leise. „Er ist für eine gerechte Sache in den Kampf gezogen und als er zurückkam, mehr tot als lebendig, ein Gefangener der Römer, ward ihr schon mein Weib." Seine Hand war warm und unwillkürlich begannen ihre Finger ein zögerliches und doch leichtes Spiel.
„Ihr seid mein rechtmäßiger Mann vor Gott," sagte Tabitha. Der Satz klang weich, beinahe liebevoll, obwohl es letztlich doch nur eine banale Feststellung war. Im selben Augenblick zog Eleazar seine Hand zurück, nahm das Messer wieder an sich und stach weiter in kurzen rhythmischen Abständen auf das Holz ein.
„Euer rechtmäßiger Mann und Krüppel", fuhr er sie an. Tabitha wartete kurz. Um sie herum war alles still, nur das Kauen der Pferde und ihr gelegentliches Schnauben waren zu hören. Als hätte sich die Welt davongestohlen, dachte sie.
„Euer linker Arm wird heilen", stellte sie nach einer Weile fest, doch Eleazar unterbrach sie sofort.
„Ihr redet wie die Tochter eines Priesters", herrschte er sie an. „Ihr versteht es vortrefflich, die Armen und Elenden zu trösten. Allein, ich will nicht auf der Seite der Armen und Elenden stehen!" Tabitha lächelte. Seltsam, sagte sie sich, er macht mir schon lange keine Angst mehr. Sie rückte etwas näher an ihren Mann heran, beugte sich vor und küsste ihn scheinbar beiläufig auf die Wange.
„Keine Sorge, mein Herr", begann sie und etwas Neckisches lag in ihrer Stimme. „Ihr werdet auch mit einer Hand schon bald wieder vortrefflich foltern, schlagen und töten können. Da bin ich ganz zuversichtlich."
Für einen kurzen Moment lachte Eleazar auf. Es klang befreit. „Was für eine Ironie," meinte er nach einer kurzen Pause. „Als ich noch dachte, ein Begehren in euch entfachen zu können, habe ich Kyron bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt, damit er mir verrät, was eure Vorlieben sind. Aber es war nichts anderes aus ihm herauszubekommen, als dass ihr es verabscheut, berührt zu werden." Dabei hielt er ihr mit einem höhnischen Grinsen den Stumpf seines rechten Arms hin.
„Der arme Kyron!", rief Tabitha erschrocken aus. „Er hat mir nichts davon erzählt."
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...