Silas hatte keine Zeit zu antworten, denn in dem Moment rammte ihm ein Legionär einen Schildbuckel in seine ungeschützte Seite, zielte dann mit der oberen Kante des Schildes gegen sein Gesicht und traf ihn oberhalb der Stirn. Wenngleich sein lederner Helm den Hieb abfederte, wurde ihm schwarz vor Augen und er stürzte nach hinten. Das nächste, was er wahrnahm, war, dass ihn jemand links und rechts ohrfeigte, dann an seinem Brustpanzer packte und schüttelte. Es war Peitholaos. Er musste Silas, als er das Bewusstsein verloren hatte, hinter einen Felsvorsprung geschliffen haben, kniete nun über ihm, versuchte ihn mit leichten Schlägen aus der Ohnmacht zu holen, und beobachtete dabei mit einem Auge den Kampf, der in unmittelbarer Nähe von ihnen unbarmherzig fortgeführt wurde. Als er sah, dass Silas die Augen öffnete, drückte er ihn leicht gegen die Steinwand und deutet ihm zu warten. Silas blinzelte, seine Augen schienen ihm ein an beiden Seiten eigenartig abgeschnittenes Bild der Welt zu liefern und auch das war unscharf, von einem Flimmern durchzogen.
„Herr," flüsterte er, setzte dann aber lauter fort, denn der Kampflärm hatte die zaghafte Anrede gänzlich verschluckt. „Warum nennt ihr meinen Vater nie bei seinem Namen?"
Peitholaos starrte ihn entgeistert an. „Silas", fuhr er ihn an, „weißt du überhaupt, wo du gerade bist?"
Silas nickte schwach. Einen Moment lang überwältigte ihn der Schmerz, den die kleine Bewegung in seinem Schädel ausgelöst hatte, und er nahm wie in einem Taumel wahr, dass sich seine Lider schlossen, ohne dass er selbst etwas dagegen unternehmen konnte. Dann spürte er, wie ihn Peitholaos wieder ins Gesicht schlug, und riss mechanisch die Augen auf. Er fühlte ein gewaltiges Hämmern hinter seiner Stirn, meinte sich übergeben zu müssen.
„Silas", herrschte ihn Peitholaos an, griff nach seinem Kiefer und drehte seinen Kopf mit einem Ruck zur Seite. „Das ist die Richtung, in die du die Linie durchbrechen kannst. Warte auf meinen Befehl." Er atmete schwer, klar und entschlossen stachen die Augen aus dem von Blut und Dreck verschmierten Gesicht heraus, sein Körper war gespannt wie der von einem wilden Tier, das auf der Lauer liegt und in jedem Moment aufspringen wird, seinen Gegner zu vernichten. „Was deinen Vater betrifft", sagte er schnell, schien mit seiner Aufmerksamkeit aber längst nicht mehr bei Silas zu sein, sondern beim Kampf, in den er gleich wieder eingreifen würde. „Es ist eine Form von Respekt."
Dann ging alles sehr schnell. Noch bevor Silas sich fragen konnte, ob er in der Lage war weiter zu kämpfen, versetzte ihm Peitholaos einen kräftigen Stoß. „Jetzt!", brüllte er ihn an. Silas gehorchte, kam ohne größere Probleme auf die Beine und bückte sich im selben Augenblick, um mit seinem Schild einen Hieb zu parieren. Er war wieder mitten im Kriegsgetümmel und führte mechanisch die Bewegungen aus, die er als Jugendlicher und später in der Armee des Aristobolus wieder und wieder eingeübt hatte. Der Krieger an seiner linken Seite hatte gerade einen Gegner getroffen und Silas nutzte die entstandene Lücke, um sich zwischen zwei Legionären hindurchzuzwängen. Zugleich holte er mit dem Schwert aus und traf die Flanke eines Römers. Während der Soldat zu Boden sank, richtete er seinen Blick auf Silas, der in den weit aufgerissenen, dunklen Augen des Feindes sehen konnte, wie das Leben aus seinem Körper wich. Silas wollte sein Schwert zurückziehen, doch es gelang ihm nicht, denn der Leib des Mannes hatte die Waffe gewissermaßen unter sich begraben. Silas richtete sich auf und sah, dass unmittelbar vor ihm ein paar Juden die römische Angriffslinie durchbrochen hatten. Er folgte ihnen, auch wenn sich in ihm alles drehte und er Mühe hatte, ein Bein vor das andere zu setzen.
Von ihrer Position aus hatten sie einen guten Blick auf den Haupteingang, wo Malichos und seine Krieger offenbar ein erfolgreiches Manöver gegen die Römer durchführten. Es war ihnen gelungen, die erste Welle der Angreifer zu zerschlagen und sie von den ihnen nachfolgenden Soldaten abzutrennen. Doch ihre Überlegenheit war nur von kurzer Dauer. Schon kletterten neue Soldaten den Hang hinauf, Malichos stürzte sich entschlossen gegen ihre Schilder und riss damit eine große Lücke in ihre Formation, bevor sein Körper gemeinsam mit einigen Römern hilflos den Abhang hinunterrollte.
Seine Soldaten dagegen nützten die Gelegenheit, um Steine aus der Mauer zu lösen und mit Fußtritten zum Rollen zu bringen. Von unten hörte man die verzweifelten Schreie der Römer, die in der Vorwärtsbewegung von den Felsbrocken überrascht worden waren. Malichos hat sich geopfert, um uns anderen einen Vorteil zu verschaffen, schoss es Silas durch den Kopf. Er wusste, dass die nächste Angriffswelle der Römer nicht lange auf sich warten lassen würde, und dass jetzt der Moment war, auf den Befehl des Peitholaos zu hören und zu flüchten.
Bis zur Außenmauer waren es nur noch wenige hundert Schritte und doch war er unentschieden. Da entdeckte er im Getümmel den bronzenen Spitzhelm des Oberbefehlshabers, der sich wieder in Richtung Haupttor zu bewegen schien. Peitholaos war gerade auf eine eingerissene Wand gestiegen, trat mit dem rechten Bein gegen den Helm eines Legionärs und starrte angestrengt in die Masse der kämpfenden Männer. Ob er sich ein Bild von der Lage machen will, oder ob er nach mir Ausschau hält?, fragte sich Silas. Doch die zweite Option schien ihm so absurd, dass er sie sofort wieder fallenließ. Ich bin nur einer von Hunderten, die an diesem Tag ihr Leben lassen werden, sagte er sich. In dem Moment trafen sich ihre Blicke. Peitholaos hob das Schwert, aber nicht um zu töten, sondern um Silas damit eine Richtung zu weisen.
Jetzt endlich war Silas bereit zu gehorchen. Er griff nach einem Gladius, das neben ihm am Boden lag, begann zu laufen, stolperte, richtete sich wieder auf. Mit einem Mal war er entschlossen, wusste, dass er keine Zeit mehr verlieren durfte. Kurz vor der Mauer hielt er inne, denn vor ihm kauerten drei Männer, von denen einer Elimelech war. Er blutete stark, rang die Hände gegen den Himmel und schrie wirr und unverständlich Fetzen von Gebeten in die Luft. Rette so viele, wie du kannst, wiederholte Silas innerlich. Es war ihm, als stünde Peitholaos direkt neben ihm, so klar konnte er seine Worte hören.
„Sei still!", brüllte er Elimelech an, packte ihn und zerrte ihn hinter sich her. Den beiden anderen Juden gab er ein Zeichen mitzukommen. Sie schienen seinen Plan verstanden zu haben und folgen ihm. Auch Elimelech war jetzt ruhig und gab sich Mühe, sich aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten. Sie liefen gebückt, bald stützten sie einander, bald zogen sie sich gegenseitig wieder hoch.
Als sie über die Mauer kletterten, war ihre kleine Gruppe bereits auf sechs, vielleicht sieben Männer angewachsen. Langsam wurde der Kampflärm leiser und während Silas den anderen voraus, jeden Schritt bedächtig wählend, die Schlucht zum Asphaltsee hinunterstieg, war er überrascht, wie lang die Schatten der Sonne inzwischen bereits geworden waren. Der Pfad war steil und beschwerlich. Jede Bewegung verursachte ihm entsetzliche Qualen. Dabei war es schwer zu entscheiden, ob der bald hämmernde, bald bohrende Schmerz in seinem Schädel schlimmer war oder die von Peitholaos Stunden zuvor ausgeschnittene Wunde am Bein.
Plötzlich hörte Silas dicht hinter ihm einen spitzen Schrei. Instinktiv wich er zur Seite und entkam gerade noch dem losen Geröll, das einer von ihnen losgetreten hatte. Gemeinsam mit den Steinen rutschte der Mann selbst in die Tiefe, er überschlug sich mehrmals, seine Gliedmaßen wurden unnatürlich auseinander gerissen. Irgendwann weit unter ihnen kam der leblose Körper zum Stillstand. Silas blieb stehen. Zum ersten Mal, seit sie die Festung zurückgelassen hatten, sah er seinen Kameraden ins Gesicht. Außer Elimelech kannte er noch zwei andere Männer. Einer von ihnen war Boaz. Er kam aus Gat, hatte bereits graues Haar und sein Gesicht war voller Falten. Er war ein guter starker Kämpfer, dem es aber oft an Disziplin mangelte.
„Boaz", begann Silas, „wir müssen aufpassen, damit wir nicht den römischen Patrouillen in die Hände laufen. Ich gehe vorne und du bleibst ganz hinten.
„Ja", erwiderte Boaz bloß und: „Wohin gehen wir?"
„Nach Galiläa", gab Silas entschlossen zurück, „wir werden versuchen, Alexander zu finden." Er ließ seinen Blick noch einmal vom einen zum anderen schweifen. Manche von ihnen nickten, andere standen nur stumm da, unfähig zu irgendeiner Reaktion. Doch Silas wusste, dass sie mit ihm kommen würden und dass er in dem Moment zu ihrem Anführer geworden war.
DU LIEST GERADE
Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...