Sie erreichten Grumentum am frühen Nachmittag. Jonathan hatte den restlichen Weg allein zurückgelegt und war allmählich wieder in eine bessere Stimmung gekommen. Die gleichmäßige Bewegung der Eselin, die klare Winterluft, die von den Sonnenstrahlen angenehm erwärmt wurde, die Schönheit der Landschaft, all das besänftigte ihn und so begrüßte er Distenes, als er ihn auf der Agora wieder traf, herzlich und ohne Vorbehalte. Distenes war sichtlich erleichtert und führte Jonathan gleich zu einer Gruppe von Diplomaten, die so wie er zu den wenigen Begünstigten zählten und anstatt in den Zelten, die von den Soldaten vor der Stadtmauer errichtet wurden, in Häusern untergebracht werden würden. Bevor sie ihre Unterkunft beziehen konnten, mussten sie allerdings noch etwas warten. Wahrscheinlich müssen sie erst die Bewohner hinaus jagen, dachte Jonathan zynisch und gab dem Jungen, den man ihm geschickt hatte, damit er den Esel versorgen konnte, eine bronzene Münze. Dann beobachtete er das Treiben am Marktplatz. Kinder spielten mit Lederbällen oder trieben mit Stöcken Reifen vor sich her, Männer kamen von der Arbeit nach Hause, die Händler versuchten noch ihre letzten Waren zu verkaufen und bei den Tavernen saßen bereits einige Ägypter, die dem heimischen Wein zusprachen.
„Meine Herren", hörte er da Distenes sagen. Er war höflich und korrekt wie immer. „Darf ich ihnen ihre Räume zeigen." Sofort kam Bewegung in die Gruppe der Wartenden. Ohne sich groß um die Regeln der Höflichkeit zu scheren, drängten sich die Männer näher an Distenes heran, ganz so als ob die ersten von ihnen in jedem Fall die schönsten Zimmer zugeteilt bekommen würden. Jonathan folgte ihnen in einer gewissen Distanz. Schon bei ihrem Marsch durch die Straßen der Siedlung hatte er bemerkt, dass es sich bei Grumentum um eine moderne Stadt handelte, die Rom in ihren Annehmlichkeiten kaum nachzustehen schien. Doch erst als er sich nun mit den übrigen Diplomaten ihrer vorübergehenden Unterkunft näherte, wurde er sich dessen bewusst, dass es auch in Grumentum jene mehrstöckigen Insulae gab, die er für eine Eigenart der Weltstadt Rom gehalten hatte. Mehr noch er begriff, dass er selbst in einem dieser Hochhäuser nächtigen würde, und überlegte kurz, ob er Distenes nicht doch lieber bitten sollte, in einem Zelt unterkommen zu können.
Hoffentlich sind die Kolosse solider gebaut als ihre römischen Artgenossen, dachte Jonathan, während sie die Holzstiegen in den vierten Stock hinaufstiegen.
„Hier sind wir", sagte Distenes freundlich und stieß eine Holztür auf. Er nickte Jonathan zu, der bedankte sich und trat ein.
Das Zimmer war schlicht, aber ordentlich. Neben dem Bett stand eine Truhe, es gab ein kleines Fenster, einen Tisch und zwei Stühle. Jonathan stellte seinen Lederbeutel auf einen der Sessel, ging zum Fenster und öffnete den Holzladen. Er wusste nicht genau, was er sich erwartet hatte, aber jedenfalls nicht das, was er vorfand. Denn anstatt eine wunderbare Aussicht über die Stadt genießen zu können, reichte der Blick gerade einmal ein paar Armlängen weit bis zur gegenüberliegenden Hausfront. Mehr noch er konnte regelrecht in die anderen Wohnungen hineinsehen. Ohne es zu wollen, beobachtete er, wie eine Frau einen Kübel mit Wasser in die Gosse schüttete und wie in der Kammer daneben ein Mädchen ihren jüngeren Bruder mit einer Sandale verprügelte. Der kleine Junge schrie aus Leibeskräften. Seine Schwester dagegen, die gerade zufällig in Jonathans Richtung blickte, lachte ihm frech ins Gesicht. Jonathan beugte sich aus dem Fenster und zog den Laden schnell wieder zu. Er war entsetzt. Das ist ja, als ob man mit wildfremden Menschen in ein und demselben Haushalt leben würde, ging es ihm durch den Kopf.
Er verharrte eine Weile in der düsteren Kammer und überlegte, ob er seinen wenigen Besitz auspacken sollte. Er schnürte den Sack auf und entschied, für den Abend ein sauberes Gewand und sein zweites Paar Schuhe herauszunehmen. Auch stellte er sein Essgeschirr auf den Tisch und nahm das Kurzmesser an sich. Die Feuersteine und den Reiseproviant dagegen ließ er in seinem Beutel, ebenso die drei Schriftrollen, die er aus Rom mitgenommen hatte.
Zwei davon hatte er abschreiben lassen, eine dritte eigenhändig in den langen einsamen Abenden, die er in seinem Zimmer verbracht hatte, angefertigt. Einen Moment lang war er unschlüssig, ob er die Thekne Rhetorike aufrollen und darin lesen sollte. Er kannte das Werk des Apollodor von Pergamon mittlerweile zwar beinahe auswendig, doch begeisterte ihn die Schrift über die juridische Rhetorik jedes Mal, wo er sie wieder in Händen hielt. Er hatte das Originale nicht aus der Bibliothek des Calvus mitnehmen dürfen und deshalb einen Schreiber beauftragt, die Schrift zu kopieren. Jonathan stellte sich vor, wie er in Jerusalem im Plenarsaal des Hohenrates nach den Regeln von Apollodor eine Ansprache halten würde und damit nicht nur die gleichgesinnten Sadduzäer, sondern selbst die Pharisäer und die anwesenden Römer für seine Thesen begeistern würde. Doch Jerusalem war weit weg und im Moment hätte er mit seinen Reden wohl nur die kleine Göre vom Nachbarhaus beeindrucken können. Jonathan beschloss, die Schrift nicht aufzurollen, denn um zu lesen hätte er den Fensterladen wieder öffnen müssen und er wollte in dem Moment alles andere als Zeuge dessen werden, was sich im Leben der Familie gegenüber gerade abspielen mochte. Es genügen mir schon die Geräusche aus den Zimmern neben, unter und über mir, dachte er entnervt.
Bevor er den Beutel wieder schloss, strich er mit den Fingern noch sanft über eine zweite Schriftrolle, ein weiches Pergament aus Kaninchenhaut, das ihn insgesamt mehrere hundert Sesterze gekostet hatte. Jonathan hatte dafür sogar einen kleinen Kredit bei einem Freund seines Onkels aufnehmen müssen. Das Pergament war zwar weniger als eine Spanne breit, aber weiß wie Schnee, die Schrift kunstvoll verziert und dabei doch klar und gleichmäßig. Der Schreiber war ein Sklave des Lucius, der nicht nur Latein und Griechisch beherrschte, sondern auch Hebräisch, Demotisch und Aramäisch. Bei den Texten, die Jonathan ihn übertragen hatte lassen, handelte es sich um griechische Liebeslyrik, eine geheime Leidenschaft von Tabitha.
In der Bibliothek von Gamaliel hatten sie Stunden damit verbracht, die wenigen griechischen Texte, die er besaß, auswendig zu lernen. In Rom nun war Jonathan auf eine Gedichtesammlung von Sappho und Anakreon gestoßen, eine Art Anthologie der schönsten Lieder der beiden griechischen Autoren. Jonathan wusste, dass Sappho aus Lesbos Tabithas Lieblingsdichterin war und er hoffte insgeheim, dass sein Geschenk etwas dazu beitragen konnte, dass sie ihm sein Fortgehen in der Nacht des Sukkot-Festes verzeihen würde.
Das dritte Schriftstück hatte Jonathan selbst kopiert. Er hatte dafür eine relativ billige, dafür aber fast sechs Ellen lange Papyrusrolle gekauft und begonnen, eine Sammlung von hebräischen Gesetzen, die er durch Zufall im römischen Stadtarchiv des Jupiter-Tempels auf dem Kapitol gefunden hatte, zu übertragen. Das Regelwerk ähnelte stark dem Buch Haddebarim, das die Grundlage des Tempelrechtes darstellte, wich an entscheidenden Stellen aber immer wieder von ihm ab. Die Ansichten, die in dem Schriftwerk zu finden waren, unterschieden sich deutlich von der Interpretation der Schrift, wie sie Jonathan von seinem Vater oder aus der Torah-Schule kannte. Er wusste zwar nicht, ob er einmal etwas damit anfangen würde können, aber es gefiel ihm die Idee, dass die Priester am Jerusalemer Tempel nicht die einzigen waren, die ein schriftliches Gesetz besaßen. Gamaliel hatte bei ihren Gesprächen diesen ketzerischen Gedanken in ihm genährt. Es ist unmöglich, hatte er mit eindringlicher Stimme doziert, dass Gott dem Mose in den vierzig Tagen und vierzig Nächten auf dem Sinai nur diese paar läppischen Gesetztestexte der Torah diktiert hat.
Jonathan hatte Gamaliel aufmerksam zugehört und dabei bald gehofft, dass Schlomo nie von seinen Besuchen bei dem Pharisäer erfahren würde, bald überlegt, ob es, wenn Gamaliel Recht haben sollte, nicht auch ein Beweisstück für seine Behauptung geben müsste. Die Rolle, auf die er in Rom gestoßen war, konnte möglicherweise genau dieser Beweis sein, mithilfe dessen Gamaliel und seine Anhänger sich in Jerusalem Gehör verschaffen würden. Aber Gamaliel die Schrift auszuhändigen, würde bedeuten, dem eigenen Vater in den Rücken zu fallen. Und obwohl Jonathan in seinem Herzen nichts als Kälte empfand, wenn er an Schlomo dachte, scheute er doch davor zurück. Sollte ich jemals Jerusalem erreichen, sagte er sich zynisch, wird es früh genug sein, darüber nachzudenken.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...