Der Weg nach Kallirohe

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Ein paar Tage später, am Morgen nach dem Schabbat, verließ die kleine Reisegesellschaft den Familiensitz in Jericho und folgte der leicht abfallenden Straße in Richtung Asphaltsee. Die beiden Wägen, in denen sie Kleidung, Schmuck und Haushaltsgeräte mitführten, wurden von Rindern gezogen, das zweite Fuhrwerk hatte man mit einer gepolsterten Bank ausgestattet, auf der Tabitha gemeinsam mit dem Kind sitzen oder auch liegen konnte. Wenn Jael schlief, bevorzugte sie es allerdings, zu Fuß neben dem Wagen her zu gehen. Denn jetzt, wo ihr Körper sich allmählich von der Geburt erholt hatte, genoss es Tabitha, sich wieder mehr zu bewegen, selbst wenn es immer wieder vorkam, dass die Narbe zwischen ihren Beinen ein wenig einriss und dabei einen kurzen stechenden Schmerz verursachte. So lerne ich vielleicht doch noch, kleine Schritte zu machen, wie es sich für eine adelige Frau gehört, scherzte Tabitha in Gedanken. Denn ihre Mutter hatte ihr genau das jahrelang mit mäßigem Erfolg versucht beizubringen.

Während sie ging, legte sie eine Hand auf den Hals des Maultieres, das einer der Sklaven direkt neben ihr führte. Sein Fell war weich, wenngleich ein wenig staubig, wie Tabitha unzufrieden feststellte.

„Jaron, am Abend putzt du die Stute besser", rief sie dem Jungen freundlich, aber bestimmt zu. „Das sind wir unseren Tieren schuldig", fügte sie hinzu und lächelte Jaron, der sofort begonnen hatte, eine Entschuldigung zu stammeln, aufmunternd zu. Sein Gesicht war bis zum Haaransatz rot angelaufen und er machte einen so unglücklichen Eindruck, dass es Tabitha bereits leid tat, überhaupt etwas gesagt zu haben. „Aber du hast sie gut beladen", meinte sie daher wohlwollend und deutete mit der Hand auf den Proviant und die Wasserbehältnisse, die mit Seilen am Rücken des Maultiers befestigt waren.

„Los, los, schlaf nicht ein. Dein Herr füttert dich nicht für's Faulenzen", hörte sie da eine grobe Stimme unmittelbar hinter sich. Es war Kaleb, der nun auf der Seite an ihr vorbei ging, den Jungen mit einem leichten Schlag gegen den Hinterkopf vor sich hertrieb und sich dann im Gehen vor Tabitha verbeugte.

„Herrin", sagte er voller Ehrfurcht, „es stehen sechs bewaffnete Soldaten unter meinem Befehl. Für eure Sicherheit und die eurer Tochter ist bestens gesorgt."

„Danke, Kaleb", gab Tabitha mit einem Lächeln zurück. „Es ist ein gutes Gefühl, dich dabei zu haben. Mein Mann vertraut dir und ich vertraue dir auch." Kaleb verbeugte sich noch einmal und überholte dann den Jungen mit seinem Maultier, denn er wollte den Konvoi selbstverständlich anführen. Immerhin hat er Jaron jetzt nicht mehr geschlagen, ging es Tabitha durch den Kopf und sie fragte sich zugleich, ob es damit zu tun haben könnte, dass Menschen im Allgemeinen milder werden, wenn sie sich selbst wertgeschätzt fühlen.

Doch allzu viel Zeit zum Nachdenken hatte sie nicht, denn Mirjam und Martha hatten begonnen, gut gelaunt Kinderlieder zu singen. Die Melodie und die Texte waren so eindrücklich, dass es beinahe unmöglich war, sich ihnen zu entziehen. Sogar die Soldaten, die auf beiden Seiten der kleinen Karawanen marschierten, begleiteten die Lieder, indem sie mit den Stangen, an denen ihr Marschgepäck befestigt war, gegen den metallenen Rand ihrer Schilder klopften und damit den Rhythmus angaben. Die Luft war trocken und heiß, doch der Wind spielte so lustig mit ihren Kleidern, mit den Turbanen der Männer und den Haaren der Frauen, dass sich die Wärme der immer stärker werdenden Sonnenstrahlen gut ertragen ließ. Tabitha gefiel es, die karge Landschaft zu beobachten, und sie mochte den Salzgeruch, der intensiver wurde, je näher sie der Pfad der Senke des Asphaltsees brachte.

Die erste Etappe führte sie bis kurz nach der Jordanfurt, oberhalb der Einmündung des Flusses in den See. An dieser Stelle konnte man für gewöhnlich durch das seichte Wasser waten oder in der Zeit, wo von Norden größere Wassermengen ihren Weg zum Asphaltsee suchten, mithilfe eines Floßes auf die andere Seite übersetzen. Es war der Ort, an dem Josua und das Volk Israel, das von Mose aus der ägyptischen Sklaverei befreit worden war, zum ersten Mal das Land der Verheißung betreten durften. Tabitha hatte die Erzählung immer schon geliebt. Wenn Seraja seine Kinder an den langen Sommerabenden gefragt hatte, welche Geschichte sie hören wollten, hatte sie sich für gewöhnlich erfolgreich gegen ihre Brüder durchgesetzt, sodass der Vater ihnen geduldig wieder und wieder den Einzug ins gelobte Land geschildert hatte und die Brüder sich einmal mehr gedulden mussten, wenn sie mehr über die Kriege der Könige von Israel und Juda erfahren wollten.

Im kleinen Dorf nach der Furt waren sie willkommene Gäste, denn dort nächtigten für gewöhnlich ausschließlich Soldaten und Händler. Der Besuch der Frau des Bezirksvorstehers mit ihrer neugeborenen Tochter dagegen war ein einmaliges Ereignis und wurde vor allem von den Frauen als willkommener Anlass genommen, ein kleines Fest zu veranstalten. Die Luft war nun angenehm kühl, das Feuer brannte, die Frauen tanzten, sangen und begleiteten sich mit ihren Tamburinen. Mirjam und Martha genossen die herzliche Stimmung, Dan tanzte ausgelassen, bis er sich irgendwann am Boden neben Tabithas Füßen hinkauerte und kurz darauf einschlief. Kyron dagegen verhielt sich eher schweigsam, saß gemeinsam mit Tabitha auf einer kleinen Bank neben der Feuerstelle und schien dabei Kaleb zu beobachten, der zusammen mit den Soldaten etwas abseits des Dorfplatzes Wache hielt.

„Ich wäre gerne einer von ihnen", sagte er irgendwann unvermittelt wie zu sich selbst. „Dann wäre ich zumindest für etwas gut."

Tabitha schüttelte energisch den Kopf. „Das sagen alle jungen Männer", widersprach sie ihm, „und dann fallen sie im ersten Kampf."

Dabei musste sie unwillkürlich an Silas denken und daran, wie sehr er stets das Abenteuer gesucht hatte, was ihm schließlich doch nur Elend und Tod gebracht hatte. Jetzt, wo sie selbst eine kleine Tochter hatte, fiel es ihr auf einmal leicht, mit seiner Mutter mitzufühlen. Sie begriff, warum die Silas am liebsten nicht aus dem Haus gehen hätte lassen, wusste sie doch, wie wild und unvorsichtig ihr Sohn war. Das ist ein neuer Abschnitt in deinem Leben, hatte Phoibe gesagt, als sie Tabitha ein paar Tage nach der Geburt einen Besuch abgestattet hatte. Ihre Augen waren voller Tränen und auch Tabitha war es, als müsste sie in diesem Moment um all die Söhne weinen, deren Leben dieser Krieg bereits gefordert hatte.

Tabitha wandte sich Kaleb zu, denn die Ruhe und Sicherheit, die von ihm ausgingen, taten ihr gut. Kaum einen Tagesmarsch entfernt in Machärus, auf den Bergen oberhalb des Asphaltsees, leisteten die Juden noch immer dem Angriff der Römer Widerstand. Kaleb wusste, dass hinter jedem Hügel und in jeder Höhle die Rebellen in ihren Verstecken lauern konnten. Die Landschaft aber, in der sie sich im Augenblick befanden, schien aus nichts anderem zu bestehen als aus solchen Hügeln und Höhlen.

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