Skylla und Charybdis

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Zu ihrem Erstaunen stellte Tabitha fest, dass weder Martha noch Miriam auf sie warteten. Sie werden mit den Küchenmägden über  die neuesten Gerüchte aus Jerusalem tratschen, dachte sie wohlwollend, band ein trockenes Tuch um ihre Haare und begann sich auszuziehen. Da sie allein war, legte sie auch ihr Unterkleid ab. Dann öffnete sie die Truhe und nahm einige Kleider heraus. Dabei war sie von einer eigenartigen Unruhe, die sie nicht erklären konnte. Sie wählte eine Tunika, legte sie aber doch wieder zur Seite, eine andere, die bei näherem Betrachten ebenfalls ihre Missgunst erweckte. Was ihm wohl gefallen könnte? fragte sie sich und ärgerte sich zugleich, weil sie für einen Mann attraktiv sein wollte, den sie in Wahrheit verachtete. Aber war es wirklich nur Verachtung, was sie empfand? Eleazar hatte ihr einmal gesagt, sie solle Kyron fragen, wenn sie wissen wolle, was für eine Art von Mensch er sei. Und tatsächlich, wenn sie an Kyron dachte und daran, wie brutal er ihn behandelte, war sie sich in ihrem Urteil sicher. Doch zugleich hatte sie Eleazars Lächeln vor Augen, hörte ihn scherzen und musste dabei schmunzeln, meinte seine Hände auf ihren Hüften zu spüren.

Sie griff nach dem kleinen silbernen Handspiegel, der neben ihr auf einem Tischchen lag, und hielt ihn so, dass sie die Umrisse ihres Köpers sehen konnte. Tabitha hatte sich schon zuvor nackt betrachtet. Mit zwölf, dreizehn Jahren, als ihre Brüste zu wachsen begannen und sie neugierig war, wie sich ihr Aussehen verändern würde. Doch diesmal war es anders. Während sie im stumpfen unsauberen Spiegelbild ihre Brüste wiederfand, die Rippen, ihre Taille, die Hüften, war es ihr, als wäre da nicht nur ihr eigener Körper, sondern zugleich auch seine Berührung. Plötzlich unterbrach sie ihr Tun, legte den Spiegel weg, griff nach der erstbesten Tunika und schmiss den Deckel der Truhe schwungvoll zu.

Kurz darauf kamen Martha und Miriam zurück. Sie hatten sichtlich schlechtes Gewissen, dass sie ihrer Herrin nicht zu Diensten gewesen waren, und machten sich umso eifriger daran, Tabithas Haar zu kämmen und ihren Lidstrich mit einem feinen Kohlestift nachzuzeichnen. Nachdem die beiden ihr Werk vollbracht hatten, ließ sich Tabitha von Meschach wieder in den Empfangssaal begleiten. Als sie eintrat, musterte sie Eleazar mit einem nüchternen Blick.

„Es ist also wahr", bemerkte er ironisch. „Eine schöne Frau kleidet selbst der älteste Fetzen."

Tabitha errötete und sah kurz an sich selbst herab. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Tunika, die sie schließlich achtlos aus der Truhe genommen hatte, nicht nur in einem langweiligen Braun gehalten war, sondern an den Säumen bereits ein wenig verschlissen war. 

„Wenn ihr wünscht, kann ich mich noch einmal umziehen", gab sie kühl zurück, doch Eleazar schüttelte nur belustigt den Kopf.

„Aber nein", erwiderte er, „wir haben zu tun."

Dabei deutete er mit der rechten Hand auf einen Mann, der ein paar Schritte von ihm entfernt auf allen Vieren am Boden kniete. Tabitha ging langsam auf ihn zu, denn sie wollte wissen, um welchen von Eleazars Klienten es sich handelte. Von der Seite erkannte sie sein Gesicht. Es war Kaleb, ein junger ambitionierter Bursche ohne allzu viel Gewissen, den Eleazar allmählich zu einer Art Nachfolger für Achior aufbaute. Da sie nicht wusste, was ihr Mann von ihr erwartete, blieb sie stehen und sah ihn fragend an.

„Ihr erinnert euch gewiss an Achior, mein Täubchen", säuselte Eleazar mit einer gespielten Milde, „und an den traurigen Verrat, den er an uns begangen hat. Seit damals habe ich es mir angewöhnt, meine Diener gründlicher zu prüfen." Er unterbrach sich kurz und ging zu einem der Fenster. Er schien sich Zeit zu lassen, und als er sich Tabitha wieder zuwandte, sah sie, dass er nun einen Rohrstock in seiner rechten Hand hielt. „Ich prüfe sie", setzte er zu sprechen fort, „auf ihren Gehorsam und auf ihre Demut."

Tabitha nickte. Sie war bisher nie bei derartigen Unterredungen dabei gewesen. Doch sie wusste von Kyron, dass Eleazar großes Wohlgefallen daran fand, seine Handlanger auf unterschiedliche Art und Weise zu demütigen. Dass er sich dies erst nach Achiors Tod zur Angewohnheit gemacht haben sollte, war Tabitha allerdings neu. Sie war noch immer unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Daher schwieg sie und wartete, was passieren würde. Da sie näher bei Kaleb stand als Eleazar, fiel ihr auf, dass ihm Schweißperlen über die Stirn liefen und er sich immer wieder nervös auf die Unterlippe biss. Dann hörte sie, wie Eleazar auf sie zukam. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er ihr den Stock. Er war lang und dünn.

„Was genau erwartet ihr von mir?" erkundigte sich Tabitha. Das feine Rohr in ihrer Hand war nicht trocken und spröde, wie sie es erwartet hätte, sondern biegsam, so als ob es sich mit Wasser vollgesogen hätte. Doch da im Haus ihres Vaters weder die Kinder noch die Bediensteten geschlagen wurden, konnte sie nicht sagen, ob das Zufall war oder Absicht.

„Bestraft ihn", forderte sie Eleazar auf und eine eigenartige Heiterkeit lag in seiner Stimme.

„Was hat er denn getan?", fragte Tabitha vorsichtig.

Eleazar zuckte mit den Schultern und machte mit den Händen eine gleichgültige Geste. „Ich weiß es nicht", erwiderte er mit einem boshaften Lächeln. Allmählich erwachte Tabitha aus ihrer Starre und spürte die Wut in sich aufsteigen.

„Ich soll also einen unschuldigen Menschen schlagen?" entgegnete sie verärgert. Dabei konnte sie sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Eleazar ihre aufbrausende Reaktion gefiel.

„Nun", stellte er gönnerhaft fest, „irgendeine Schuld wird er schon auf sich geladen haben." Bei den letzten Worten kam er näher an Tabitha heran und blieb unmittelbar hinter ihr stehen. Er legte seine Hände leicht in ihre Taille und beugte seinen Kopf zu ihrem Ohr hinunter. „Wer weiß", flüsterte er, „vielleicht hat er eine Jungfrau vergewaltigt." Tabitha stockte der Atem. Sie spürte ihr Blut so heftig pulsieren, dass sie meinte, ihr Herz müsste den Brustkorb sprengen.

„Ein junges Mädchen", fuhr Eleazar nach einer Weile leise fort, „fast noch ein Kind."

„Bei allem Respekt, mein Herr", widersprach ihm Tabitha heftig, "aber ich werde eurem Wunsch nicht nachkommen." 

Sie richtete sich auf und sah ihrem Mann entschlossen in die Augen. Eleazar nickte und es schien ihr fast, als hätte er ein wenig gelächelt. Doch Tabitha wusste, dass er nicht so leicht nachgeben würde. Eine Weile blieb es still. Eleazar ging langsam im Raum auf und ab, ganz so, als wäre er gelangweilt. Kaleb hatte unterdessen zu zittern begonnen, bemühte sich aber dennoch, den Eindruck von Selbstbeherrschung aufrecht zu erhalten.

„Armer Kaleb", meinte Eleazar schließlich. „Er hatte so gehofft, dass ihr ihn bestrafen würdet und nicht ich."

„Tatsächlich?", Tabithas Stimme klang spitz, ungewöhnlich emotional. "Ihr habt ihm also die Wahl gelassen", fuhr sie ihn an, "zwischen Skylla und Charybdis."

Eleazar reagierte nicht gleich. Er hatte sich Kaleb genähert und schien die Szene teilnahmslos zu beobachten. „Habe ich dir die Wahl zwischen Skylla und Charybdis gelassen, Kaleb?"

„Herr", antwortete Kaleb schnell, als wollte er um Verzeihung bitten. "Ich weiß nicht, was das bedeutet."

Eleazar wandte sich seiner Frau zu. Er machte eine entschuldigende Geste. "Ich fürchte, Kaleb fehlt es an Bildung, mein Täubchen", meinte er. "Er hat wohl noch nichts von den beiden Seeungeheuern gehört..."

„Also gut", unterbrach ihn Tabitha scharf. Sie hatte begriffen, dass alles, was sie tat, Kalebs Leiden, die Scham und das Warten nur verlängern würde. „Dann geht zur Seite", befahl sie ihrem Mann und warf ihm dabei einen bösen Blick zu.


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