Mutter und Kind

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„Keine Dummheiten", zischte ihr der Mann zu, hielt die Tür auf und deutete ihr auszusteigen. Ihre Blicke trafen sich, aber nur für einen kleinen Moment, dann wendete er sich zur Seite, ganz so, als ob er sich erst wieder fassen müsste. Wie wenn er in meinem Gesicht etwas Schreckliches entdeckt hätte, wunderte sich Tabitha und ärgerte sich zugleich, dass sie sich so wenig konzentriert hatte und sich eigentlich schon gar nicht mehr an die Augen des Fremden, geschweige denn an ihren Ausdruck erinnern konnte. Die Angst macht blind, sagte sie sich und ermahnte sich, von nun an aufmerksamer zu sein. Im Krieg, hatte Silas seine Freunde gerne belehrt, wann immer er und Jonathan sich über die großen Schlachten der jüdischen Könige unterhalten hatten, kann jede noch so kleine Beobachtung über Leben und Tod entscheiden.

Und eine Art Krieg war dieser Überfall jedenfalls. Im Umkreis von ein paar Schritten lagen mehrere Leichen am Boden, der einzige aufrechtstehende Mann, den sie auf den ersten Blick erkennen konnte, war der Fremde, der ihr gerade befohlen hatte auszusteigen. Denn auch von den beiden Rebellen, die sich zuletzt im Hintergrund gehalten hatten, hockte nun einer gekrümmt am Boden, der andere schien ihn zu stützen. Der Mann mit dem blauen Schal jedoch stand breitbeinig vor ihr, in seiner rechten Hand hielt er den Gladius, von dessen Spitze sich einzelne Bluttropfen einen Weg zum Boden suchten.

Mit der anderen Hand schien er seinen Turban in Ordnung zu bringen. Als wollte er sein Haar darunter verbergen, ging es Tabitha durch den Kopf und es war ihr zugleich bewusst, dass ihre Deutung keinerlei Sinn ergab. Welcher Rebell würde sich mitten in einem Überfall um sein Haar kümmern? Sie beobachtete den Fremden. Gerade zog er den Fetzen, mit dem er sein Gesicht verhüllt hatte, höher über die Wangenknochen, griff dann mit seiner freien Hand nach ihrem Oberarm, zwang sie auszusteigen und sich unmittelbar vor ihn hinzustellen. Den Gladius hielt er ihr an den Hals, jedoch so, dass er ihre Haut damit nicht berührte.

Tabitha löste mit zitternden Fingern den Schal, den sie über ihren Schultern trug, und hüllte Jael, die sie mit dem anderen Arm fest an sich presste, damit ein. Wie durch ein Wunder hatte die Kleine inzwischen zu schreien aufgehört und mochte vielleicht sogar eingeschlafen sein.

„Wo ist Kaleb?", rief Tabitha, ohne dass man sagen konnte, von wem sie eine Antwort erwartete.

„Sei still", herrschte sie der Mann hinter ihr an. Im selben Augenblick kam Dan unter dem Wagen hervorgekrochen. Er richtete sich ungeschickt auf, schien aber unverletzt.

„Tot!", schrie er, als habe der Wahnsinn von ihm Besitz ergriffen. „Tot, tot, tot."

Dabei war es unklar, ob er Kaleb meinte oder irgendeinen der anderen Männer, die regungslos, und die meisten von ihnen blutüberströmt, am Boden lagen. Tabitha überlegte, was sie in ihrer Lage tun konnte, um Dan zu beruhigen. Doch das war nicht nötig, denn gerade versetzte ihm der Rebell, der sich eben noch um seinen Gefährten gekümmert hatte, mit einem Stock einen Schlag gegen den Hinterkopf und Dan sackte mit einem kleinen Aufschrei in sich zusammen. Der Wind wehte noch kräftiger als zuvor, der Sand, den er aufwirbelte, nahm Tabitha die Sicht.

„Plündert die Wägen!", schrie der Fremde hinter ihr. „Aber lasst die Verletzten am Leben." Dann griff er mit einer Hand nach ihrem Genick und drehte sie in die Richtung, in die er offensichtlich aufbrechen wollte. Doch er wirkte unentschlossen. „Tut den Frauen keine Gewalt an", brüllte er gegen den Wind, aber es war fraglich, ob ihn jemand außer Tabitha gehört hatte, und wenn ja, ob sich seine Leute an den Befehl halten würden. Der Mann musste dasselbe gedacht haben, denn er drängte Tabitha zum Wagen zurück, trat entschlossen gegen die Tür, sodass diese in mehrere Stücke zersplitterte und zeigte mit dem Schwert auf die Mägde.

„Raus mit euch", herrschte er die beiden an. „Ihr kommt mit uns!"

Mirjam und Martha gehorchten, wobei Mirjam noch nach dem Schlauch mit Dattelwein griff, den sie am Morgen für Tabitha abgefüllt hatte. Sie starrten den Mann fragend an und stolperten dann Hand in Hand in die Richtung, die er ihnen mit seiner Waffe wies. Tabitha ging direkt hinter ihnen. Der Sturm wurde stärker und sie musste immer wieder husten, denn da sie ihren Schal verwendet hatte, um Jael zu schützen, blieb ihr nichts anderes übrig, als gemeinsam mit der Luft auch den feinen rötlichen Sand einzuatmen.

„Bist du ein Widerstandskämpfer?", fragte sie und gab sich Mühe trotz ihrer Angst so laut als möglich zu sprechen, denn sie wollte sicher sein, dass der Fremde sie hören konnte.

„Sei still", fuhr sie der Mann grob an und sie spürte, wie der Griff an ihrem Nacken fester wurde. Tabitha war unsicher, ob sie ihm gehorchen oder vielleicht doch versuchen sollte, eine Unterhaltung zu beginnen. Es ist viel schwieriger, einem Menschen das Leben zu nehmen, der dich ansieht und mit dir spricht, hatte ihr Eleazar einmal gesagt. Nun, er musste es wissen. Und nachdem der Fremde den Blickkontakt offensichtlich verweigerte, blieb ihr nur diese eine Möglichkeit.

„Der rechtmäßige König der Juden lässt keine Frauen und Kinder töten", setzte sie daher noch einmal an.

„Du sollst still sein, verdammt", schimpfte der Mann und versetzte ihr mit seinem Knie von hinten einen leichten Stoß, wie um ihr zu zeigen, dass er auch andere Möglichkeiten hatte, sie zur Vernunft zu bringen. Eine Zeit lang kämpften sie sich schweigend gegen den Wind vorwärts.

„Wir haben euch auch nicht getötet, wie es mir scheint", nahm der Fremde nach einer Weile das Gespräch wieder auf. Tabitha war überrascht, noch überraschter aber war sie, dass ihr die Stimme des Rebellen mehr und mehr bekannt vorkam. Und doch konnte sie sie nicht zuordnen. „Ich bringe euch an einen sicheren Ort", fuhr er fort, „und wenn dein teurer Gatte das Lösegeld bezahlt, kommt ihr alle vier frei."

Tabitha lachte kurz und bitter auf. „Du weißt genau, dass das nicht die Art ist, wie solche Dinge enden", erwiderte sie, blieb dann aber still, denn sie wollte ihn nicht unnötig reizen.

Der Weg wurde immer beschwerlicher. Martha war schon zweimal gestürzt, sie zitterte am ganzen Körper und schluchzte so heftig, dass sich Tabitha wunderte, wie sie überhaupt atmen konnte. Doch der Mann schien Geduld mit ihnen zu haben. Beide Male blieb er stehen und wartete, bis Martha sich den Sand von ihren blutigen Handflächen gewischt hatte. Auch musste er Mirjam hinter Tabithas Rücken gedeutet haben, Martha zu trinken zu geben. Denn die reichte ihrer Schwester den Schlauch mit Wein und anschließend auch Tabitha. Irgendwann, als Tabitha schon dachte, keine Kräfte mehr zu haben, um sich Schritt für Schritt gegen den Sturm zu stemmen, erreichten sie ein kleines Wäldchen. Von nun an kamen sie besser voran. Es war, als ob sie den Wind draußen zwischen den Felsen zurückgelassen hätten, nur sein Tosen drang noch in ihre Ohren, die Luft, die sie atmeten, aber war wieder rein.

„Stehenbleiben!", kommandierte der Mann und seine Stimme klang zum ersten Mal unsicher. Wieder wies er mit dem Schwert in eine Richtung. Tabitha starrte angestrengt zwischen den Bäumen hindurch und es schien ihr, als ob sie ganz hinten, am Ende des Hains ein paar Häuser erkennen konnte.

„Das ist Kallirohe", hörte sie den Fremden sagen, „es ist nicht mehr weit."

Tabitha wollte sich instinktiv zu ihm umdrehen, doch die Hand in ihrem Nacken ließ es nicht zu.

„Schau mich nicht an", befahl er grob. „Geh schon. Mit deinen Dienerinnen und deinem Kind, bevor ich es mir anders überlege."

Einen Moment lang war Tabitha wie versteinert. Sie spürte, dass er den Griff gelockert hatte und sie frei war. Sie begriff, dass sie ihm jetzt ins Gesicht hätte sehen können, doch das wäre natürlich Irrsinn gewesen. Mirjam und Martha hatten sich vor dem Mann auf die Knie geworfen und stammelten Worte des Dankes, die gepaart mit ihren Tränen allerdings kaum zu verstehen waren.

„Geht, geht", brüllte er. Jetzt endlich ergriff Tabitha die Initiative. Sie drückte Jael noch fester an sich und zerrte Mirjam mit der anderen Hand hoch.

„Los!", befahl sie. „Tun wir, was er uns sagt."

Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung. Die Schwestern weinten, ihre Schritte waren unsicher und unbeholfen, wurden aber immer schneller, bald liefen sie und Tabitha spürte das Stechen der Geburtsnarbe nun mit einer solchen Erbarmungslosigkeit, dass sie Angst hatte, sie würde über kurz oder lang das Bewusstsein verlieren. Ihre Oberschenkel fühlten sich feucht an und sie wusste, dass die Flüssigkeit nur ihr eigenes Blut sein konnte. Sie hatten erst eine kurze Strecke zurückgelegt, da blieb sie entsetzt stehen. Der Fremde musste ihnen in einem bestimmten Abstand gefolgt sein. Jetzt rief er nach ihr und Tabitha meinte, ihr Herz würde zu schlagen aufhören.

„Tabitha!", der Ruf, die Stimme, alles war vertraut. Sie drehte sich um, sah ihm nun endlich aufmerksam ins Gesicht, in seine strahlenden blauen Augen. Der Mann riss sich den Fetzten Stoff vom Gesicht.

„Silas", flüsterte Tabitha fassungslos.

„Tabitha", wiederholte er, „bevor du gehst, sag mir: Lebt meine Mutter noch?"

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