Die römischen Infanteristen hatten inzwischen drei Kolonnen gebildet und damit begonnen, sich in bedrohlicher Monotonie den Hang hinaufzubewegen. Zwei Abteilungen benutzten die befestigten Wege, die links und rechts am Fuß des Hügels ihren Ausgangspunkt hatten, die dritte Abteilung stieg gerade aus über die Böschung auf, direkt auf das Haupttor zu. Sie hatten sich für schmale Angriffslinien von lediglich drei bis vier Mann entschieden, sodass die Steine, welche die jüdischen Verteidiger von der Festungsruine hinab rollen ließen, keinen großen Schaden anrichten, sondern das Fortkommen ihrer Feinde lediglich ein wenig verlangsamen konnten. Bei Alexandreion hatten die Römer noch Ballisten und Skorpione eingesetzt. Doch diesmal schien ihnen die Mühe nicht zu lohnen, was zum einen daran liegen mochte, dass der kugelförmige Berg für den Beschuss zu steil war, zum anderen daran, dass es keine richtige Burg, sondern nur ein paar armselige Mauern einzunehmen gab.
Peitholaos hatte unterdessen gut hundert Kämpfer gesammelt und bildete mit ihnen die linke Flanke. Die rechte Flanke, mit der Aristobolus eine Schwachstelle im Süden, über welche die Römer ebenfalls einfallen konnten, zu verteidigen suchte, war doppelt so stark. Auf der Nordseite, in der Mitte zwischen den beiden Gruppen, waren unmittelbar hinter der Torkonstruktion drei Reihen Soldaten positioniert. Für sie wie für die übrigen Juden war es ein Kampf ums Überleben, denn der Abstieg über die Westseite war, wenn überhaupt, nur für einige wenige möglich, jedoch gewiss nicht für ein ganzes Heer. Silas hatte begriffen, was Peitholaos von ihm wollte, und nach dem letzten Wortwechsel war er sogar bereit zu gehorchen. Doch noch dachte er nicht daran zu fliehen. In der Dämmerung, hat er gesagt, wiederholte Silas innerlich, als läge darin die Berechtigung, doch in den Kampf einzugreifen.
Die Römer führten ihren Angriff selbstsicher. Sie waren mindestens dreimal so viele wie die Soldaten des Aristobolus, besser ausgebildet und besser bewaffnet. Silas sah sich um. Einige seiner Mitkämpfer waren verwundet, die Mehrzahl übermüdet und enttäuscht. Nicht wenige murrten halblaut gegen ein Unternehmen, das zum Scheitern verurteilt war.
„Wenn wir Alexandreion verloren haben", hörte er von hinten eine Stimme, „wie können wir Machärus halten?" Er drehte sich um, warf dem Soldaten einen verärgerten Blick zu und brachte ihn damit zum Verstummen. Doch gleich darauf fuhr ein anderer zu meutern fort: „Wir sollten uns ergeben, vielleicht wird man uns Gnade gewähren." Einige andere pflichteten ihm bei und Silas erschien es, als würden ihre Beifallsbekundungen immer lauter.
„Die Römer kennen keine Gnade", herrschte er die Männer böse an, hatte dabei aber nicht den Eindruck, dass seine Worte auf sie besonderen Eindruck machten. Vielmehr war es ihm, als würde sich ihre aus der Verzweiflung geborene Wut nun gegen ihn richten.
„Und was empfiehlt uns der Musterschüler?", verspottete ihn einer von ihnen. „Wenn dir Peitholaos mehr von seiner großartigen Strategie verraten hat, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt uns einzuweihen."
In dem Moment ertönte unverkennbar und gebieterisch die Stimme ihres Königs. Aristobolus war auf einen besonders exponierten Stein geklettert und blickte von oben auf seine Truppe herab.
„Söhne Israels!", rief er laut und mit einem nicht zu überhörenden Pathos. „Die Kittim kommen. Wir haben nur eine Wahl: Wir ziehen gegen sie in die Schlacht, denn Adonai, gelobt sei sein Name, wird für uns kämpfen!" Man hörte das Schreien einiger weniger Soldaten, und es war dabei nicht einmal klar, ob sie Zustimmung oder Protest zum Ausdruck bringen wollten. Doch Aristobolus zeigte sich unberührt. „Herr, Gott der Himmel und der Erde", rief er aus, „verleihe meinen Armen Kraft! Herr, Gott der Heerscharen, gib meinem Schwert Zuversicht und meinem Schild Beständigkeit!" Dann erteilte er mit seiner Rechten den Kampfbefehl.
Sofort begannen einige Soldaten, Steine von den Mauern hinunter zu rollen, wenngleich ohne große Überzeugung. Silas dagegen entschied, die Entwicklung zunächst zu beobachten. Von seiner Position aus konnte er das Feld der Angreifer gut überblicken. Auch hörte er das laute Stöhnen der Römer. Sie waren sehr nahe. Die Soldaten der rechten Flanke hatten angefangen, sich vorwärts zu bewegen, der Kriegslärm war nun voll entfacht. Schwerter krachten gegen Schilde und Schwert gegen Schwert. Die Verwundeten brüllten vor Schmerz und Todesangst.
Da brach die Holzbefestigung ein, die das ehemalige Tor ersetzt und das mehr oder weniger lose Gestein gestützt hatte, und stürzte unter lautem Gepolter in sich zusammen. Sofort drangen die ersten Legionäre durch die schmale Öffnung ein. Die Juden kämpften tapfer, doch der Schildwall der Römer auf der Innenseite der Mauer wurde immer breiter. Mit routinierten Bewegungen schützten die Römer einander und stachen mit ihren Kurzschwertern die Verteidiger nieder.
Silas konnte nicht erkennen, was aus der Flanke des Aristobolus geworden war, Peitholaos dagegen versuchte offenbar, die in die Festung eingedrungenen Angreifer in Schach zu halten. Er hatte seine Soldaten ein Dreieck aus Schildern bilden lassen, und zu seinem Erstaunen stellte Silas fest, dass es ihnen tatsächlich gelang, gegen die Kampfformation der Feinde vorwärts zu rücken. Immer wieder wurden sie ein Stück weit nach hinten gedrängt, aber alles in allem schien es, als würden die jüdischen Kämpfer ihre Stellung halten könnten.
Plötzlich kam Bewegung in die starren Reihen der Krieger. Einige Soldaten aus der Abteilung des Peitholaos hatten zu schreien begonnen, gaben ihre Position auf und drehten sich um. Sie waren von hinten von einer Gruppe von Legionären angegriffen worden. Die mussten vom Haupttor aus die Mauer entlang geschlichen sein und die Entschlossenheit, mit der die Juden dort gegen die Angreifer kämpften, genützt haben, um ohne großes Aufsehen die spärliche Befestigung zu überwinden. Peitholaos reagierte schnell und stellte sich ihnen mit einem Teil seiner Männer entgegen. Es waren vielleicht dreißig bis vierzig Soldaten.
Auch Silas und seine Mitstreiter bildeten rasch eine Linie und bewegten sich im Laufschritt gegen die heranstürmenden Römer vor. Der Zusammenprall mit dem Feind war hart, das Vorgehen auf beiden Seiten unbarmherzig. Silas lies sein Schwert mit aller Kraft gegen das Schild eines Römers krachen, der den Hieb aber geschickt parierte und gleich darauf versuchte, Silas an der offenen rechten Seite seines Brustkorbes zu treffen. Silas wich unwillkürlich aus, doch einer seiner Kameraden, der von hinten nachrückte, nahm ihm jeden Bewegungsspielraum. Die Spitze des Schwertes streifte seinen Lederpanzer, ein anderer Römer zielte unter lautem Gebrüll nach seinem Schild. Silas verlor das Gleichgewicht, zerschnitt im Fallen den Oberschenkel oder vielleicht auch die Wade eines Gegners.
Er hatte jedoch keine Zeit, sich zu vergewissern, was für einen Schaden sein Schwert angerichtet hatte. Vielmehr wusste er, dass er alles daran setzen musste, wieder auf die Beine zu kommen und sich zu verteidigen. Er rollte auf die Seite und versuchte sich robbend nach vorne zu bewegen, ohne dabei sein Schild loszulassen. Da spürte er, wie ihn zwei kräftige Arme von hinten wieder aufrichteten. Staub, Schweiß und Blut verklebten seine Augen, sodass er nur verschwommen sehen konnte. Die Stimme des anderen dagegen konnte er ohne jeden Zweifel erkennen. Es war Peitholaos.
„Los, Junge, wir sind umzingelt", rief er. „Wir versuchen ihre Linie zu durchbrechen, dann kannst du den Westhang erreichen."
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...