Vom Müßiggang

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„Ófra de me nýmfes Minoídos ouranon ízoi", melodisch erfüllten die klare Stimme des Sklaven, die Zither und die Tamburinklänge die ebenso aufwändig wie geschmackvoll ausgestattete Pergola. Tabitha lag im Halbschatten auf einer Kline, Mirjam saß neben ihr und die von Eleazar engagierten Künstler gaben sich gemeinsam mit den ihnen assistierenden Sklaven sichtlich Mühe, die Gattin des Bezirksvorstehers zufrieden zu stellen. Der Korb mit den Schlangen, die Eleazar ihr vor Monaten geschenkt hatte, stand offen am Boden. Tabitha hatte nicht lange gebraucht, um die beiden Nattern an sie zu gewöhnen. Ihr ruhiger Umgang mit den Tieren hatte ihnen beinahe jede Scheu und Aggression genommen.

Nur Dan war einmal von dem Weibchen in die Hand gebissen worden, als er es während einem Sonnenbad auf der Terrasse grob am hinteren Teil des Schwanzes gepackt hatte. Da er die Wunde aus schlechtem Gewissen anfänglich niemandem zeigen wollte, hatte sie sich entzündet und eine schwarze Beule gebildet, die später ausgestochen werden musste. Seit damals hielt Dan einen beachtlichen Sicherheitsabstand zu den beiden Schlangen und so hatte er sich auch jetzt, wo die Nattern bei Tabitha auf der Kline lagen, nicht zu den Frauen gesetzt, sondern spielte unweit der Pergola mit den beiden Buben, die den Lektor begleitet hatten und bei denen es sich wohl um seine Söhne handeln musste.

Das weibliche Tier schlief eingerollt am Fußende der Liege, während das zutraulichere Männchen seinen Körper um den deutlich gewölbten Bauch seiner Besitzerin gewunden hatte und seinen kleinen Schädel mit einer eigenartigen Selbstverständlichkeit auf ihrer Brust ruhen ließ. Tabitha streichelte immer wieder sanft über seine warme trockene Haut, hielt in der Bewegung aber sofort inne, wenn sie den Eindruck hatte, dass ihre Nähe die Natter überforderte. Mirjam überwachte die Szene mit sorgenvoller Miene. Seit sich gezeigt hatte, dass Tabitha ein Kind erwartete, war sie keinen Moment von ihrer Seite gewichen. Sie kümmerte sich hingebungsvoll darum, dass ihre Herrin stets eine große Auswahl an abwechslungsreichen Speisen vorfand, und bemühte sich, sie von jeglicher Gefahr fernzuhalten. Die beiden Schlangen waren Mirjam ein Dorn im Auge und sie hätte sie, obwohl sie ungiftig waren, am liebsten Tag und Nacht in ihrem Korb eingesperrt. Doch Tabitha liebte die Gegenwart der Tiere und auch Eleazar gefiel es, seiner Frau dabei zuzusehen, wie sie mit den Nattern spielte oder ihnen kleine Kunststücke beibrachte.

Seitdem ihre Schwangerschaft sichtbar war, hatte Eleazar entschieden, dass Musik und Lesungen eine angemessene Vorbereitung für die bevorstehende Geburt wären. Entgegen Tabithas ursprünglichem Vorschlag, die hebräischen Texte der Tanach rezitieren zu lassen, hatte er aber befohlen, dass in seinem Haus keine religiösen Schriften vorgetragen werden sollten, sondern Werke der griechischen Kunst. Obwohl Eleazar darin nicht besonders bewandert war, verschaffte er sich rasch das nötigen Wissen und mit Hilfe von Marc Anton, der in der letzten Zeit häufig zu Besuch gekommen war, auch eine große Menge an ägyptischem Papyrus, sodass er die Schriften des griechischen Dichters Kallimakos über den Ursprung aller Dinge kopieren lassen konnte.

Tabitha hatte nur in dem Maß protestiert, wie es für die fromme Tochter eines bedeutsamen Jerusalemer Priesters angemessen war, denn in Wahrheit interessierte sie die griechische Lyrik um einiges mehr als die heiligen Schriften, die sie seit ihrer frühesten Kindheit beinahe täglich gehört oder gelesen hatte. Außerdem mochte sie den Erzählstil des Dichters, der seine Texte bald wie eine spannende Erzählung, bald wie einen heiteren Schwank gestaltete. Im Unterschied zu Mirjam hatte Tabitha mit derartigen Schriften bereits Bekanntschaft gemacht, wenn sie gemeinsam mit Jonathan heimlich in der gut ausgestatteten Bibliothek des Gamaliel, die bei den gesetzestreuen Juden einen zweifelhaften Ruf besaß, geschmökert hatte. Für Mirjam hingegen war all das neu und so kicherte sie immer wieder ausgelassen, bemühte sich im nächsten Moment aber stets wieder ernst zu sein, und ihrem Auftreten jene Würde zu verleihen, die für eine Dienerin in einer gehobenen Position angemessen war.

Das gerade vorgetragene Lied handelte von der alten ägyptischen Königin Berenike, die ihre Haare den Göttern geopfert haben soll, damit ihr Gatte unversehrt aus dem Krieg zurückkommen möge. Als durch unerklärliche Umstände das Haar vom Tempelaltar verschwunden waren, erklärten die Priester, es habe sich in Sterne verwandelt. Tabitha kannte die Legende bereits und musste unwillkürlich an ein Gespräch denken, das sie einmal mit Jonathan geführt hatte. Jonathan war damals in die Darstellung eines Kampfes der makkabäischen Krieger vertieft gewesen und hatte nur ihr zuliebe die Pergamentrolle zur Seite gelegt und sich der Frage nach dem Ursprung der Sterne gewidmet. Allerdings hatte er das Problem relativ rasch mit einem Verweis auf das Buch Bereshit gelöst, in dem es heißt, dass Gott die Sterne gemeinsam mit Sonne und Mond am vierten Tag der Schöpfung ins Dasein gerufen habe.

Vielleicht wollte er den religiösen Lehren seines Vaters nicht widersprechen, dachte Tabitha. Oder er wollte die wenige Zeit, die uns noch geblieben war, bevor wir nach Hause gehen mussten, lieber zum Lesen verwenden. Seit dem Gespräch über die Sterne waren keine drei Jahre vergangen und doch hatte sich ihr Leben in dieser Zeit völlig verändert. Gedankenversunken begann Tabitha ihren Bauch zu streicheln und spielerisch einen leichten Druck auf jene Stellen auszuüben, wo sie gerade die Bewegungen des Kindes spüren konnte. Mirjam war aufgestanden, hatte sich von einem Sklaven ein Tablett mit Datteln reichen lassen und hielt es ihr nun einladend hin.

„Herrin, wollt ihr nicht ein wenig essen?", fragte sie höflich, doch Tabitha lehnte ab.

„Aber nein, Mirjam, ich esse die ganze Zeit", wehrte sie freundlich ab. „Die Mengen würden genügen, um vier oder fünf Kinder heranwachsen zu lassen." Sie schmunzelte, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Ich werde allerdings mit Eleazar sprechen. Ich möchte einen Ort schaffen, wo sich schwangere Mütter, die Hunger leiden, treffen können und man ihnen zu essen gibt."

Mirjam zuckte teilnahmslos mit den Schultern. „Ihr könnte nicht die ganze Welt retten, Herrin", meinte sie und nahm selbst eine von den Datteln. „Außerdem glaube ich nicht, dass die Armen dem Herrn ein großes Anliegen sind."

Tabitha lächelte. „Das nicht", gab sie wohlwollend zurück, „aber es wird ihn auch nicht stören. Ob ich mit den Schlangen spiele oder Fladenbrote austeile, wird ihm einigermaßen einerlei sein."

In dem Moment rannte Dan an ihnen vorbei, griff im Laufen nach einer Dattel und brachte damit das Tablett zum Fallen. Mirjam fluchte leise und bückte sich, um gemeinsam mit dem sofort herbeigeeilten Sklaven die Früchte aufzuklauben. Die Schlange, die auf Tabithas Bauch geruht hatte, war aufgewacht und zischte wütend. Unter dem argwöhnischen Blick ihrer Dienerin beruhigte Tabitha die Natter und legte sie dann vorsichtig in ihren Korb zurück.

„Irgendwann wird er sich in der Gegenwart des Herrn so schlecht benehmen", schimpfte Mirjam ärgerlich. „Dann bekommt er zumindest seine gerechte Strafe."

Tabitha richtete sich ein wenig auf. Sie wollte Mirjam nicht kränken, doch ermüdete sie ihre ständige Gegenwart und sie musste sich immer wieder beherrschen, keine ungeduldigen Antworten zu geben. Sie dachte an Eleazar und daran, dass er sich in letzter Zeit Mühe gegeben hatte, zumindest in ihrer Anwesenheit seine Zornausbrüche zu kontrollieren. Auch haderte er nicht offen mit dem Schicksal, das ihm die rechte Hand genommen hatte. Allerdings verließ er den Palast deutlich seltener und hatte einige seiner täglichen auswärtigen Pflichten, die ihm als Bezirksvorsteher zukamen, an Kaleb übertragen, der mittlerweile ebenfalls im Herrenhaus lebte und Eleazars Leibgarde befehligte.

Die Revolte im Norden war noch nicht unter Kontrolle, und auch wenn es den Römern gelungen war, die Soldaten des Aristobolus auf die östliche Seite des Jordans zurückzudrängen, waren die Wege zwischen Jerusalem, Jericho und Galiläa nach wie vor unsicher. Neben den Soldaten, die Alexander in Galiläa gesammelt hatte, war auch eine große Zahl an ehemaligen Kämpfern, die von der zerstörten Festung Alexandreion geflohen waren und nun in der Wüstenregion zwischen Jericho und Jerusalem sowie im Gebiet des Asphaltsees führerlos vagabundierten, auf den Straßen unterwegs. Tabitha wusste, dass Eleazar, sofern er noch kampftauglich gewesen wäre, jeden Tag mit seinen Männern unterwegs gewesen wäre, um die Rebellen auszuforschen und unschädlich zu machen, wie er es selbst gerne nannte. Insofern hat ihm die verlorene Hand vielleicht schon mehrmals das Leben gerettet, ging es ihr durch den Kopf. Zugleich nickte sie, denn Mirjam hatte etwas gesagt, jedoch ohne, dass Tabitha ihr zugehört hätte.

Dan rannte noch immer mit den Kindern zwischen den Palmen um die Wette und Tabitha spürte, wie die Luft, nachdem die Sonne im Westen hinter einem Hügel untergegangen war, deutlich kühler wurde. Ein Stück von ihnen entfernt sah sie Eleazar die weit ausladenden Treppen hinaufsteigen und ein Gefühl der Zuneigung erfüllte sie, ganz ähnlich wie jenes, das kurz zuvor die Erinnerung an Jonathan in ihr ausgelöst hatte.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt