Jonathan führte seine Stute wieder an die Spitze der kleinen Gruppe. Sie reagierte nun leicht auf seine Hilfen, Übermut und Nervosität waren mittlerweile der Müdigkeit gewichen. Jonathan konzentrierte sich auf die Mergelformationen, an denen die vorbei ritten. Sie ähnelten einander und doch musste er den einen Felsvorsprung finden, der an einen Hundeschädel erinnerte. Denn von dort führte ein steiler Pfad in die Depression des Nahal Refaim hinunter.
„Woran erkennen wir den Felsen, bei dem wir abbiegen müssen?" erkundigte sich Silas, als ob er die Gedanken seines Freundes erahnt hätte.
„Er sieht aus wie der Schädel von einem Jagdhund", antwortet Jonathan und deutete seinen Begleitern zugleich, dass sie schweigen sollten.
Er wusste nicht, ob die Freunde sein Handzeichen im Dunkeln erkennen konnten. Jedenfalls verhielten auch sie sich ruhig, wohl weil sie wussten, dass sie hier in der Nähe der Quelle von En-Schemesch jederzeit mit römischen Patrouillen rechnen mussten. Nachdem Pompeius Jerusalem erobert hatte, war den Römern schnell klar geworden, dass die Gegend um Jerusalem verstärkter Verteidigungsmaßnahmen bedurfte. Um die immer wieder einfallenden Nabatäer und Parten abzuwehren, hatte die Provinzstatthalter Lucius Marcius Philippus und Cornelius Lentulus Marcellinus daher einen Ring von kleinen militärischen Vorposten um die Hauptstadt legen lassen. Diese befanden sich in etwa einen halben Tagesmarsch voneinander entfernt und waren üblicherweise mit einem befehlshabenden Zenturio, einer bescheidenen Kavallerieeinheit von etwa zwanzig Reitern und achtzig bis hundert Fußsoldaten ausgestattet, die neben den Hauptverkehrsrouten in der Nacht vor allem die Gebiete um die wenigen Wasservorkommen kontrollierten.
Auch wenn der Umstand, dass sich drei junge Männer nachts auf dem Weg nach Para befanden, an sich noch nicht strafbar war, wollten Jonathan und Silas ein Zusammentreffen mit den römischen Auxiliartruppen doch lieber vermeiden, nicht zuletzt da es sich bei den Soldaten fast durchwegs um Männer aus Iturea, Samarien und Syrien handelte, die üblicherweise keine Gelegenheit ausließen, mit Brutalität und Willkür gegen die jüdischen Einheimischen, die Erzfeinde ihrer eigenen Väter, vorzugehen. Die wenigen Juden, die in den Hilfstruppen dienten, stellten dabei kaum eine Ausnahme dar. Meist waren sie hellenistisch geprägt und fühlten sich dem Judentum religiös nicht verbunden, hätten sie ansonsten doch nicht ihren Dienst in einer Armee verrichten können, die selbstverständlich auch am Sabbat in den Kampf zog.
Da stand der Gesteinsbrocken plötzlich vor ihnen. Markant hob er sich von der kargen Wüstenlandschaft ab. Jonathan ließ das Pferd anhalten und glitt lautlos von seinem Rücken. Dann führte er die Stute um den Felsvorsprung herum und begann, sich ihr auf einem schmalen Pfad vorsichtig vorantastend, den Abstieg in das Nahal Refaim.
„Was ist das für ein elender Weg", fluchte Silas mit ungewohnt leiser Stimme.
„Solange du noch die Zeit zum Schimpfen hast, kann es nicht so schlimm sein", erwiderte Jonathan trocken, ohne sich nach seinen Begleitern umzusehen. Er musste sich auf jeden Schritt konzentrieren und da der Boden nun steinig und hart war, konnte er an den Hufschlägen hinter sich abschätzen, wie viel Abstand zwischen ihm und seinen Freunden sein mochte. Plötzlich stolperte seine Stute und drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Sie musste mit der Hinterhand zu nah an den Abgrund geraten sein. Die Steinlawine, die sie losgetreten hatte und die anfangs ganz unscheinbar vom porösen Gestein abgebrochen war, rauschte immer neues Material mit sich reißend in die Tiefe. Das Geräusch und der Sog, den sie dabei erzeugte, waren so gewaltig, dass Jonathan einen Moment meinte, sein Herz würde zu schlagen aufhören. Als wenn die Erde entzwei bräche, dachte er und konnte seine Schritte nur mit Mühe beherrschen, so sehr zitterten ihm die Knie.
„Ein verfluchter Scheißweg ist das", hörte er Silas und musste ihm insgeheim zustimmen. „Das Ganze in der Nacht. Und warum? Weil das Mustersöhnchen noch den Gottesdienst mit dem Herrn Vater zelebrieren wollte." Wieder musste Jonathan seinem Freund Recht geben. Der Steig war gefährlich, das wusste er, und möglicherweise hatte er die Lage falsch eingeschätzt. Aber nun hatten sie keine Wahl mehr, denn mit den Pferden am Zügel umzukehren, wäre unmöglich gewesen. Also stiegen sie weiter ab. Immer wieder lösten sich Geröllbrocken, immer wieder rutschten bald die Pferde bald die Reiter aus und immer wieder gelang es ihnen wie durch ein Wunder, festen Boden unter den Füßen zu fassen. Silas war längst verstummt. Jeder für sich kämpften sie sich weiter. Die Anstrengung und die Wärme, die vom Nahal zu ihnen aufstieg, trieben ihnen den Schweiß ins Gesicht, die Kleider klebten durchnässt an ihren Körpern. Dann endlich wurde der Pfad ein wenig breiter. Zumindest so breit, dass man nicht bei jedem Schritt dem Tod ins Gesicht blicken muss, sagte sich Jonathan und spürte erst jetzt, wie schwer das schlechte Gewissen auf ihm lastete.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...