Kyron

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Als sie erwachte, war der Morgen noch nicht angebrochen. Tabitha hatte rastlos und wirr geträumt und wusste, dass sie trotz ihrer Müdigkeit nicht mehr zurück in den Schlaf finden würde. Sie stand also auf, und da sie ihre Dienerinnen nicht wecken wollte, kleidete sie sich ohne deren Hilfe an. Dann huschte sie leise in den Gang und ging ohne einem bestimmten Ziel im Haus umher. Sie war unruhig und wusste nicht warum. Sie hätte nachdenken wollen, und fand in ihrem Inneren doch nichts als Leere. Was für ein schöner Säulengang, sagte sie sich und unwillkürlich fiel ihr die prächtige Säulenstraße ein, von der ihr Marc Anton vorgeschwärmt hatte. Mit einem boshaften Lächeln auf den Lippen trat sie in den Hof und fuhr im nächsten Augenblick zusammen, als sie die erschrockene Stimme von Kyron vernahm.

„Herrin", flehte sie der junge griechische Sklave an, „ich bitte euch, seid nicht wütend auf mich. Ich wollte nichts Unrechtes tun." Er hatte sich vor ihr hingekniet und bedeckte mit einem Stück Leinen seine Scham. Ansonsten war er nackt und trotz dem spärlichen Licht konnte Tabitha erkennen, dass seine helle Haut von blauen Flecken und Striemen überzogen war.

„Ich habe mich nur gewaschen", beschwor sie Kyron mit zitternder Stimme.

„Es ist schon gut", erwiderte Tabitha schnell, „Du brauchst keine Angst zu haben." Sie strich mit der Hand sanft über sein weiches Haar und spürte dabei, wie er versuchte, ihrer Berührung auszuweichen.

„Ich bin schmutzig, Herrin", stammelte er unbeholfen. Tabitha ging zum Brunnen und nahm Kyrons Kleidung, die der Junge ordentlich zusammengelegt hatte. Dann reichte sie ihm das Bündel und wartete, bis er sich angezogen hatte. „Du bist nicht schmutzig", sagte sie langsam wie zu sich selbst.

„Aber es ist ein Gräuel vor Gott", entgegnete Kyron zaghaft.

„Ja, das ist es", antwortete Tabitha und dachte dabei unwillkürlich an ihren Vater und dessen Auslegung der alten Erzählung von Sodom und Gomorra. „Aber nicht, weil es ein Mann ist, der bei einem Mann liegt, sondern wegen der Gewalt." Es war still. Kyron hörte ihr zu und es schien ihr, als wäre er für jedes Wort, das sie zu ihm sprach, dankbar. „Wenn es denn Liebe wäre, Kyron", fuhr sie daher fort. "Dann hätte Gott gewiss nichts auszusetzen. Und wenn es so wäre, dann würdest du dich nicht schmutzig fühlen." Wieder schwieg sie. Kyron sah sie noch immer erwartungsvoll an. "Am Ende der Tage, Kyron, wenn das Gericht kommt", sagte Tabitha, wie sie es ihren Vater so oft predigen gehört hatte, "wird Gott zwischen den Tätern und den Opfern unterscheiden. Und er wird die trösten, die geweint haben, er wird jede Träne von ihrem Gesicht abwischen." Sie wartete. Sie hätte Kyron gern in die Arme genommen, doch etwas in ihr sagte ihr, dass ihm jede Berührung unerträglich sein musste.

„Weißt du, was ich als Kind immer getan habe, wenn ich traurig oder wütend war?" fragte sie und bemühte sich dabei, ihrer Stimme einen aufmunternden Klang zu geben. Der Sklave zuckte zaghaft mit den Schultern.

„Komm", forderte ihn Tabitha auf und ging vor ihm her auf die Stallungen zu. Als sie sicher war, dass er ihr folgte, fuhr sie fort: „Du musst mir aber versprechen, dass du nicht über mich lachst." Kyron blieb stumm und Tabitha ärgerte sich ein bisschen über das, was sie gesagt hatte, denn die Vorstellung, dass Kyron über sie oder irgendetwas anderes lachen könnte, war denkbar absurd. 

„Ich habe die Kamele beobachtet, wie sie atmen", sagte sie und öffnete behutsam den Riegel, mit dem der Pferch der Kamele verschlossen war. Gemeinsam betraten sie den Stall, in dem die Tiere teils im Stehen, teils im Liegen schliefen. Kyron folgte Tabithas Geste und sie setzten sich ins Stroh, nah an den Kopf eines Jungtieres.

„Die Nase des Kamels, Kyron", flüsterte Tabitha. „Ist ein Wunderwerk Gottes. Denn die Luft, die das Kamel ausatmet, ist völlig trocken." Sie nahm seine Hand und führte sie trotz dem leichten Widerstand, den sie spürte, an die Nüstern des Kamels heran. Dann ließ sie ihn los und beobachtete zufrieden, wie Kyron allmählich seine Scheu zu überwinden begann und mit dem Rücken seiner Finger vorsichtig die warme Haut des Tieres berührte. „Es scheint fast, als würde die Nase des Kamels die Feuchtigkeit zurückhalten wollen, die bei den anderen Tieren den Körper verlässt, wenn sie atmen. Als wäre es die Art und Weise, wie Gott das Kamel anleitet, in der Wüste nicht zu vertrocknen, trotz Hitze und Glut zu überleben." 

Kyron sagte nichts, aber Tabitha wusste, dass sein Herz etwas leichter geworden war. Sie blieben lange still neben dem Kamel sitzen. Immer wieder zuckten Schatten über Kyrons Stirn und Tabitha begriff mit der Zeit, dass es die Bilder der letzte Nacht waren, die ihn nicht loslassen wollten. Von Eleazars Lustsklaven war Kyron der mit dem schönsten Gesicht, sein Körper glich dem einer griechischen Statue. Eleazar ist ein guter Gastgeber, er wird ihn Marc Anton nicht vorenthalten haben, ging es ihr durch den Kopf. Vielleicht sind sie auch beide bei ihm gelegen, dachte sie und spürte dabei einen Schmerz in ihrer Brust. Plötzlich war die Erinnerung an die Sukkot-Nacht wieder da, das Gefühl, nicht atmen zu können und von einer Dunkelheit erfasst zu werden, in der kein Leben bestehen kann.

„Ich muss jetzt gehen", meinte sie und stand langsam auf. Kyron drehte sich zu ihr um. 

„Darf ich...", setzte er unsicher zu fragen an.

„Ja, natürlich", antwortete Tabitha freundlich. „Bleib ruhig hier. Wer sollte sich daran stören?"

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt