Selig der Mann

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Kurz darauf betrat sie ihr Schlafgemach, wo sie schon von ihren Dienerinnen erwartet wurde.

„Tabitha", sagte Martha besorgt und griff nach den Händen ihrer Herrin. „Ihr zittert ja."

Tabitha nickte. „Mir ist schwindlig", erwiderte sie matt.

„Kommt", entgegnete Martha bestimmt und führte Tabitha zu ihrem Bett. „Wollt ihr euch hinlegen?" fragte sie, doch Tabitha schüttelte stumpf den Kopf. Dann setzte sie sich auf den Rand der Matratze. Mirjam reichte ihr einen Kelch mit Dibis und Tabitha trank einen Schluck von dem süßlichen Dattelsirup. Sie beobachtete Martha, die gerade ein Tuch mit kaltem Wasser tränkte. Ihre Hände waren zart und mit feinen Hennazeichnungen überzogen. Tabitha und Mirjam hatten sie gemeinsam gemalt, als sie noch zuhause gewohnt hatten. Doch nun konnte Tabitha die Blüten der kleinen Buschröschen kaum erkennen, immer wieder legte sich das Bild des sterbenden Achiors vor ihre Augen. Das Blut, das Messer, Eleazar, der sicher und ohne dem kleinsten Anzeichen von Mitgefühl zustach. Tabitha spürte, wie das Zittern ihrer Hände stärker wurde. Ihr Magen krampfte sich zusammen und obwohl sie nur ein paar Bissen von den Kernen des Granatapfels gegessen hatte, meinte sie sich übergeben zu müssen. Sie versuchte tief durchzuatmen und nahm noch ein wenig von dem Dibis. Martha fuhr ihr zärtlich mit dem feuchten Tuch über die Stirn. Da klopfte es leise an der Tür. Mirjam sah Tabitha fragend an, und als diese nickte, öffnete sie. Es war Kyron, der sich sofort verbeugte und Tabitha respektvoll grüßte.

„Der Herrin geht es nicht gut", fuhr ihn Martha schroff an, noch bevor Tabitha seinen Gruß erwidern konnte.

„Das tut mir leid", antwortete Kyron unsicher. Er wartete, wagte es aber nicht, Tabitha direkt anzusehen. „Ich könnte auf der Laute für euch spielen", schlug er nach einer Weile schüchtern vor.

Tabitha überlegte kurz, dann nickte sie schwach. „Warum nicht", erwiderte sie freundlich und zwang sich, Kyron zumindest ein kleines Lächeln zu schenken. Doch da er seinen Blick noch immer gehorsam auf den Boden richtete, nahm er davon keine Notiz. Er verbeugte sich und verließ den Raum, um das Instrument zu holen. Martha fuhr unterdessen fort, ihrer Herrin die Stirn zu kühlen. Als ein Tropfen Wasser über Tabithas Gesicht lief, musste sie sich von ihrer jüngeren Schwester Mirjam dafür tadeln lassen, das Tuch zu wenig ausgewunden zu haben. Sofort entwickelte sich zwischen den beiden Mädchen ein Streit, den sie aus Rücksicht auf Tabitha allerdings mit gedämpften Stimmen ausfochten. Das Aramäisch, das sie untereinander sprachen, war so stark von dem Dialekt geprägt, den sie als Kinder im Neghev gesprochen hatten, dass ein Fremder es für eine ganz andere Sprache hätte halten müssen. Tabitha musste über die Beharrlichkeit der beiden Streithähne schmunzeln, doch zugleich ermüdete sie ihr Gezanke und so schickte sie die Schwestern schließlich, nachdem Kyron mit seiner Laute zurückgekommen war, hinaus.

Der Junge verbeugte sich noch einmal und nahm dann auf einem Holzschemel in der Nähe des Fensters Platz. Als sich ihre Blicke für einen Augenblick trafen, lächelte er ein wenig. Er hat eine feine Art zu dienen, ging es Tabitha durch den Kopf. Kyron begann zu spielen. Sicher und mit  großer Leichtigkeit erfüllten die Lautenklänge den Raum. Es war eine traurige Melodie und die Hingabe, mit der Kyron musizierte, berührte sie. Tabitha war es, als würde der Sklave nicht nur von seinem eigenen Leid singen, sondern auch von dem ihren, mehr noch vom Leid jedes einzelnen gequälten Geschöpfes auf der ganzen Welt.

Jetzt, da Kyron saß, bemerkte sie erst, wie knapp die Tunica bemessen war, die er lose um seinen Oberkörper und seine Hüften gebunden hatte. Natürlich wusste Tabitha, dass es die Art war, wie sich Dirnen und Lustsklaven kleideten, und doch tat es ihr weh, Kyron so spärlich angezogen zu sehen, noch dazu in Seide, was zumindest bei einem Knaben keinen Zweifel an seinem Gewerbe lassen konnte. Sie stellte sich vor, wie Kyron in seiner kurzen Tunica Eleazar in all den Nächten gegenüber stehen hatte müssen, wie er seinen Blicken schutzlos ausgeliefert war. Dann richtete sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Melodie, die Kyron gerade spielte, auf die Ausdruckskraft, die er ihr verlieh, wie er sie wiederholte und variierte. Kurz dachte sie, dass sie, während er musizierte, das Stöhnen Achiors vergessen würde können, doch es gelang ihr nicht.

Sie rückte von der Kante in die Mitte des Bettes und zog die Beine so nah an ihren Körper, dass sie ihren Kopf auf die Knie legen konnte. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie sich einem Sklaven gegenüber in einer so wenig herrschaftlichen Haltung zeigen durfte, doch sie konnte sich nicht recht entscheiden und letztlich war es ihr auch gleichgültig. Schließlich richtete sie sich wieder auf, denn sie wollte nun auch Kyron bitten, sie allein zu lassen. Der hatte die Laute gerade zur Seite gelegt und war näher an Tabitha herangetreten. Vorsichtig ließ er sich auf der Bettkante nieder, auf der Tabitha kurz zuvor gesessen hatte. 

„Faínetaí moi kénos ísos théoisin", sagte er leise und Tabitha begriff erst nach einer Weile, dass er begonnen hatte, ein griechisches Gedicht zu rezitieren. Da sie sah, mit wie viel Hingabe er sich der Poesie widmete, nickte sie ihm leicht zu und er fuhr fort. „Selig, gleich den Himmlischen, muss der Mann sein, der euch gegenüber sitzt." Wie warm und melodisch sein Worte klingen, dachte sie. „Eurer Stimme liebliche Töne trinket..." Dann fiel ihr auf, dass Kyron die Wimpern und die Augenlider mit Kohle geschwärzt hatte. Wie Marc Anton, ging es ihr durch den Kopf, nur dass der eine sich damit gefällt und der andere gefallen muss. „...und eures Lächelns Reize sieht." Wenn das Gedicht zu Ende ist, sage ich ihm, dass er gehen soll, nahm sie sich vor. „Ein Schauer durchbebt mich, blasser als welke Blumen bin ich, und nur wenig fehlt, dass ich nicht atemlos sterbe." Kyron schwieg und Tabitha wusste, dass es der Moment war, ihren Vorsatz umzusetzen, doch sie zögerte. Sie hatte nur den einen Wunsch, endlich allein zu sein, aber sie wollte Kyron auch nicht kränken. 

„Bei der Ausbildung", meinte Kyron nach einer Weile und klang dabei deutlich unsicherer als zuvor, „zuhause in Griechenland, hat man uns beigebracht, dass wir Frauen immer sagen müssen, sie seien wunderschön." Kurz verstummte er und senkte seinen Blick. „Aber bei euch ist es die Wahrheit." Dann schwiegen sie beide, und die Stille zwischen ihnen war von einer Schwere, der Tabitha gerne entflohen wäre. Sie spürte, dass Kyron verlegen war und nicht wusste, ob er einen Fehler gemacht hatte. Er ist ein Kind, dachte sie, er sollte draußen auf der Straße mit anderen Buben um die Wette rennen.

„Kyron, ich", setzte sie zu sprechen an, doch weiter kam sie nicht. Es war sinnlos zu leugnen: Die Ereignisse des Morgens hatten sie so sehr aufgewühlt, dass sie kaum zu einer vernünftigen Überlegung fähig war.

„Eure Dienerin hat davon gesprochen, dass es euch nicht gut geht." Er zögerte. "Wenn es euch recht ist, Herrin, könnte ich euch massieren. Vielleicht wird es dann besser." Einen kurzen Moment lang sah Kyron ihr in die Augen. Wie ein verschrecktes Reh, dachte Tabitha. Doch neben der Angst fand sie auch ein wenig Zuversicht. Er hatte Vertrauen zu ihr und er wollte zugleich alles tun, damit sie mit seinen Diensten zufrieden sein würde. Tabitha seufzte. Kyron wartete auf eine Antwort und es lag an ihr, dem Gespräch eine klare Richtung zu geben.

„Kyron", begann Tabitha nun entschlossener, „ich möchte nicht, dass wir diese Dinge miteinander tun."

Einen Moment lang sah er sie verständnislos an. "Wenn ihr nicht massiert werden wollt..." Er unterbrach sich. Sein Blick wirkte hilfesuchend.

"Ich meine nicht das Massieren", erwiderte Tabitha. "Ich meine all die Dinge, die man dir beigebracht hat." Sie wartete kurz. "Zu denen man dich gezwungen hat", fügte sie dann hinzu.

Kyron blieb stumm. Er hielt den Kopf nun gesenkt, die eingefallenen Schultern ließen ihn noch schmächtiger erscheinen als sonst. „Ich gefalle euch nicht", stellte er dann fest und es klang wie eine Selbstanklage.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt