Ägyptische Wüste, Spätsommer 56
Je länger die Karawane unterwegs war, desto mehr hatten sich die gelbroten Dünen in eine kahle Steinwüste gewandelt. Der Boden war hart und es gelang den Männern nur mit größtem Kraftaufwand, die Holzpflöcke zu fixieren, wenn sie in den heißesten Stunden des Tages ihre Zelte errichteten, die ihnen zumindest einen gewissen Schutz vor der erbarmungslosen Sonne zu gewähren versprachen. Dann kam plötzlich Farbe in das eintönige Bild. Das Grün von Palmen, das die öde Landschaft unterbrach. Es folgten Wiesen, die sich um kleine Wasserflächen herum ausbreiteten. Steinkonstruktionen, wie sie häufig als Verankerung für Sonnentücher und Zelte dienten, gaben Auskunft darüber, dass an diesem Ort bisweilen auch größere Gruppen lagern mussten. Doch die Atmosphäre war anders als in den Oasen, in denen sie bisher gerastet, ihre Wasserreserven aufgefüllt und die Kamele gewechselt hatten. Es gab keine Kinder, die laut spielend herumliefen, keine Händler, die ihre Waren anboten, keine Frauen und Mädchen, die das Obst nach Farben sortierten, Oliven und Fladenbrot auf kleinen Bänken zum Verkauf anboten.
Die Wüste war ein stiller Ort, das hatte Nayla während der langen Tage auf dem Rücken der Kamele begriffen. Doch hier, in der Oase des Gottes Amun war die Abwesenheit der Geräusche beinahe furchteinflößend. Nayla hatte sich mit aller Entschlossenheit gegen ihren Vater durchsetzen müssen, der ihr die Reise schließlich nur mit großem Widerwillen gestattet hatte und weil es das Recht einer Braut war, vor ihrer Eheschließung ein Orakel zu befragen. Dein Bruder ist schwer krank, hatte Harendotes gesagt, ich habe nur noch dich. Die Reise zum Tempel des Amun ist lang und gefährlich. Wie auch sonst, wenn sie eine Entscheidung gegen alle guten Ratschläge und berechtigten Bedenken durchgesetzt hatte, konnte Nayla nicht leugnen, dass ihr in bestimmten Momenten selbst Zweifel kamen. So wie damals, als sie Silas an den jüdischen Feldherrn verkauft hatte, damit er eines Tages wieder ein freier Mann sein würde. Nayla seufzte. Der Gedanke an Silas tat ihr auch jetzt, gut ein Jahr, nachdem sie ihn zuletzt gesehen hatte, noch weh.
Sie beobachtete die Soldaten, die wie immer mit ihren wachen Augen die Umgebung nach möglichen Gefahren absuchten. Sie waren dafür ausgebildet, Räuber und Briganten aufzustöbern und sich nicht von deren Angriffen überraschen zu lassen. Auch hatte Harendotes Boten mit Bestechungsgeschenken zu jenen Stammesführern entsandt, die auf dem Weg von Alexandrien bis zu der gut zehn Tagesmärsche entfernten Oase des Amun ihre Geschäfte trieben.
Der erste Teil des Weges war ruhig verlaufen, entlang der Küste nach Westen. Nayla wusste, dass manche der Dörfer, in denen sie übernachteten, von Alexander, dem großen griechischen Eroberer erbaut worden waren, als er selbst einmal seine Hauptstadt Alexandrien verlassen hatte, um das Orakel aufzusuchen. Wenn sie am Abend beim Feuer zusammensaßen, unterhielt sie sich mit ihren beiden Sklavenmädchen darüber, welche Frage sie dem Gott stellen würde. Denn Amun antwortete den Gläubigen nur ein einziges Mal, und Kija und Aset setzten ihren ganzen Eifer daran, eine Formulierung zu finden, die ihrer Herrin möglichst viel Auskunft über die bevorstehende Ehe mit Marik, einem wichtigen Vertreter des alexandrinischen Adels, geben würde. Nayla ließ sie gewähren, hörte aber kaum zu, sondern konzentrierte sich mehr auf das, was die Männer sprachen, wenn sie sich über die Route unterhielten, die sie am kommenden Tag zurücklegen würden. Nach einer Woche beschrieb die Karawane eine langgezogene Kurve nach Süden, im zunehmend unwegsamen Gelände mussten sie die Marschgeschwindigkeit reduzieren und öfter Pausen einlegen.
Als sie schließlich erschöpft und ausgelaugt am Wohnort des Gottes ankamen, ließ sich Nayla von einem Sklaven beim Absteigen helfen, streckte sich ein wenig und sah sich um. Die Oase schien sich links und rechts bis zum Horizont zu erstrecken, auf beiden Seiten glänzten dunkle Wasserflächen. Es war ein Blau so tief, wie sie es noch nie gesehen hatte, im Süden dagegen entdeckte sie bereits nach wenigen hundert Schritten die ersten Sanddünen. Unmittelbar vor ihr lag die breite, gepflasterte Prozessionstrasse, die zum Tempel führte. Nayla deutete dem Sklaven, ihr jene kleine Truhe zu geben, die sie die ganze Zeit über in der Seitentasche ihres Kamels mit sich geführt hatte. Dann machte sie sich zu Fuß auf den Weg zum Tempel.
Das erste Steintor war eine imposante Konstruktion, die an einen gewaltigen Opferaltar erinnerte und selbst einer stolzen Ägypterin wie Nayla das Gefühl gab, klein und unbedeutend zu sein. Das Tor bestand aus einer Kammer, die etwa zehn Schritte lang war. Ein leicht ansteigender Pfad führte sie zum zweiten, noch massiveren Tor. Der schnelle Wechsel von Licht und Dunkelheit schmerzte ihre Augen. Sie blinzelte, drückte die Truhe fest an sich, dann führte sie der Weg über eine Wasserfläche, welche die Strahlen der Sonne auf eine Art und Weise reflektierte, dass Nayla den Eindruck hatte, von Blitzen, die aus dem Boden hervorschossen, getroffen zu werden.
Der letzte Aufstieg zum Tempel verlief nicht gerade aus, sondern in engen Serpentinen, und da Nayla anfangs zu schnell gegangen war, musste sie bald eine Pause einlegen und Luft holen. Im Tempel befand sich, wie man ihr erzählt hatte, eine Statuette des Amun. Es hieß, sie sei aus dem Gestein der Sterne gefertigt und bewege sich mithilfe der Kraft des Gottes. Nachdem die Pilger den Priestern ihre Spende übergeben hatten, durften sie eine einzige Frage stellen, die der Gott mit einer Bewegung nach vorne bejahen und mit einer Bewegung nach hinten verneinen würde. Dabei war man allein, allein vor der Anwesenheit Gottes, keiner außer man selbst und Amun würde je erfahren, was gesprochen worden war.
Nayla stand nun vor dem großen Portal. Das hölzerne Tor war offen, doch die grellen Strahlen der Sonne hatten sie so sehr geblendet, dass sie drinnen im Dunkeln zunächst beinahe blind war. Irgendwann erkannte sie drei Priester, von denen zwei in einer Papyrusrolle lasen und sich leise unterhielten. Der dritte blickte zu ihr auf, kam nach einer angedeuteten Verbeugung auf sie zu und nahm die Truhe an sich. Dann verschwand er kurz in einem Nebenraum, und Nayla nutzte die Gelegenheit, sich nun, da sich ihre Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten, umzusehen.
Die aus rötlichem Stein gefertigten Wände waren kahl, in der Mauer vor ihr öffnete sich ein weiteres Tor, das in einen langgezogenen engen Gang führte. Weit hinten, es mochte das Ende des Schlundes sein, konnte Nayla ein Flammenlicht sehen. Der Ort, an dem Gott wohnt, sagte sie sich. Dann musste sie mit einem Schmunzeln an Kija und Aset denken, die trotz ihrer Ehrfurcht gegenüber der Herrin darauf bestanden hatte, dass Nayla die zuletzt formulierte Frage auf ein kleines Pergamentröllchen aufschrieb. Der Aufwand und die Gefahr, die mit der Reise verbunden waren, hatten in den beiden Sklavinnen die Überzeugung gestärkt, dass es für das Glück und Gelingen von Naylas Ehe von entscheidender Bedeutung war, die richtige Frage zu stellen.
Inzwischen war der Priester zurückgekommen. Er gab ihr ein Zeichen und sie folgte ihm in den Gang hinein. Nach wenigen Schritten blieben sie stehen, der Mann gab ihr eine Handvoll Weihrauchkörner und deutete mit dem Kopf auf eine breite Schale, in der einige Holzscheite glühten. Nayla bemühte sich, eine ehrfurchtsvolle Haltung einzunehmen und warf dann den Weihrauch mit einer gezielten Bewegung in die Schale. Sofort stieg eine weiße, süßlich riechende Wolke auf. Ihre Augen begannen zu brennen und sie konnte nur mit Mühe das Husten unterdrücken. Zugleich spürte sie, wie die Kraft aus ihren Beinen wich und sich die Bilder in ihrem Kopf zu drehen begannen. Sie musste sich an die Mauer lehnen, um sich aufrecht zu halten. Sie hörte die Stimme des Priesters, der monoton und ohne die Tonlage zu variieren eine einfache Melodie summte. Immer wieder drangen einzelne Wörter in ihr Bewusstsein durch, „Amun, Gott", „Amun, Sonne", „Amun, Herr der Zukunft".
Dann schob er sie weiter in den nächsten Raum. Es war der Ort, wo die Flamme brannte und die Statue des Gottes stand. Nayla war nun allein. Da sie sich noch immer schwach fühlte, entschied sie zu knien. Dann tastete sie nach dem kleinen Röllchen in ihrer Tasche und dachte kurz an die Erwartungen, die Harendotes und die gesamte Dienerschaft für diesen einen Moment in sie gesetzt hatten. Denn Naylas Zukunft betraf sie alle. Nayla holte tief Luft. Die Verantwortung lastete schwer auf ihrem Herzen. Und doch, sagte sie sich, es ist mein Leben und nicht das Ihre. Sie schloss die Augen und versuchte, die Einheit mit dem Gott zu spüren, von der sie die Priester oft sprechen gehört hatte. Dann begann sie zu beten.
„Amun, Vater Ägyptens, Sonne des Lebens," flüsterte sie. „Ich gelobe, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein." Sie unterbrach sich kurz, zögerte, entschied dann aber, mit lauter Stimme fortzufahren. „Amun, Gott aller Götter, ich bitte euch, richtet euer Auge auf den jungen Griechen, den Priester des fremden Gottes, und sagt mir: Werde ich ihn je wiedersehen?"
Einen Moment blieb es still und Nayla meinte, nicht mehr atmen zu können. Dafür schlug ihr Herz laut und wild, der Schwindel in ihrem Schädel war noch schlimmer geworden und sie musste sich zwingen, der Ohnmacht zu widerstehen, die sich ihr wie eine süße Versuchung darbot. Da endlich hörte sie ein leises Quietschen und die kleine Statuette des Gottes begann sich nach vorne zu drehen.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...