Jericho

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Jericho, Herbst 57

„Habt ihr gewusst, dass Hyrkan das Amt des Schatzmeisters neu vergeben hat." Kyrons Begeisterung war kaum zu bremsen.

So wie früher, dachte Tabitha, als er noch am Unterricht meiner Brüder teilnehmen konnte. Doch seit Eleazar zum Leiter des Sanhedrin befördert worden war und in Jericho ein luxuriöses Anwesen erworben hatte, war der Weg nach Jerusalem zu weit, um ihn täglich zurückzulegen. Heute jedoch hatte Tabitha ihrer Familie einen Besuch abgestattet. Dan, Martha, Miriam und Kyron waren mit ihr gekommen, außerdem eine Eskorte von sechs Leibwächtern. Nun waren sie gemeinsam am Heimweg.

„Natürlich wird es jetzt zu einer Umbildung in der Tempelverwaltung kommen," fuhr Kyron eifrig fort.

Während er redete, betrachtete Tabitha ihn liebevoll. Kyron war in den letzten  Monaten so viel selbstbewusster geworden, dass sie ihn schon wiederholt hatte ermahnen müssen, Eleazar nicht zu widersprechen.

„Stellt euch vor, wenn sich auch euer Vater aus dem Tempeldienst zurückziehen würde. Ob er als Privatmann wohl in Jerusalem bleiben würde? Denkt nur, wie schön es wäre, wenn eure Familie auch nach Jericho ziehen würde!" Kyron sah Tabitha erwartungsvoll an und als sie nicht gleich reagierte, fügte er hinzu: "Meint ihr, das wäre möglich?"

„Ich bin keine Prophetin", gab Tabitha scherzend zurück und schob Kyron dabei ein wenig vor sich her, denn sie waren länger als geplant in Jerusalem geblieben und sie verspürte nun eine ständig wachsende Unruhe, wenn sie an ihren Gatten dachte.

„Ihr hättet die Sänfte nehmen sollen, Herrin," hörte sie da Miriam leise klagen.

Tabitha schmunzelte, denn es gab nur wenige Fragen, bei denen ihre Mägde geneigt waren, Eleazar Recht zu geben und nicht ihr. Warum er wohl erlaubt hat, dass ich zu Fuß gehe, fragte sich Tabitha. Vielleicht war es eine Art Wertschätzung. Vielleicht aber hielt Eleazar den Umstand für nützlich, dass seine Frau wegen ihrer Bescheidenheit beim einfachen Volk äußerst beliebt war. 

Tabitha atmete bewusst die feuchte Herbstluft ein. Der Abend war kühl, der Himmel grau und es nieselte, was in dieser Jahreszeit in der Gegend um Jericho sehr ungewöhnlich war. Martha hatte mehrere Male angeboten, ihren eigenen Umhang auszuziehen, damit sich ihre Herrin besser vor dem Regen schützen konnte, doch Tabitha hatte es abgelehnt. Sie mochte den frischen Geruch des Wassers und es störte sie weder, dass ihr Gewand nässer und nässer wurde, noch, dass ihr die Regentropfen, die sich in ihrem Haar gesammelt hatten, allmählich in kleinen Rinnsalen über die Stirn und die Wangen liefen.

Nach dem Essen waren Dan und Kyron mit ihrem Vater und den Brüdern beisammen gesessen und hatten sich bald über Politik, bald über Gott unterhalten. Ihre beiden Mägde dagegen hatten die Gelegenheit genützt, mit den Hausbediensteten den neuesten Tratsch aus Jerusalem und Jericho auszutauschen, und Tabitha wusste, dass sie es kaum erwarten konnten, bis sie mit ihr allein waren und ihr alles, was sie erfahren hatten, im Detail berichten würden können. Bis dahin galt es aber noch, Kyrons Ausführungen über die veränderten Kräfteverhältnisse in der Tempelverwaltung anzuhören.

„Der Priester Pinchas wird der neue Wächter und der alte Schatzmeister Schlomo zieht sich zurück", erklärte der gerade eloquent. „Damit ist aus dem zweitmächtigsten Priester von Judäa ein Privatmann geworden." 

Er ist klug und hat das bemerkenswerte Talent, sich selbst kleine Details zu merken, hatte Seraja schon nach den ersten Unterrichtseinheiten zu Tabitha gesagt. Nach und nach war Kyron in ihrem Elternhaus zu einem Familienmitglied geworden, und als Tabitha ihrem Vater einmal dafür gedankt hatte, hatte der nur mit einem Lächeln erwidert, dass Kyron ein Kind Gottes sei wie sie und ihre Brüder auch. Umso mehr schmerzte es Tabitha, dass Eleazar seinen ehemaligen Lustsklaven nach wie vor wie Dreck behandelte und keine Gelegenheit ausließ ihn zu erniedrigen. Kyron war inzwischen verstummt.

„Und warum hat sich Hyrkan ausgerechnet für Eleazar entschieden?", erkundigte sich Tabitha, denn sie hatte das Gefühl, dass sie bisher zu wenig Interesse an seinen Ausführungen gezeigt hatte.

„Es dürfte die Entscheidung der Römer gewesen sein."

Kyrons Antwort fiel knapper aus, als Tabitha es erwartet hätte. Je näher wir seinem Herrn kommen, desto schweigsamer wird er, dachte sie. Da er ihr leid tat, griff sie nach seiner Hand und hielt sie eine Weile fest. Dabei gingen sie weiter. Natürlich war es nicht schicklich, dass eine verheiratete Frau von adeligem Geschlecht auf der offenen Straße die Hand ihres Sklaven hielt. Doch im Hause des Eleazar galten im Allgemeinen weder die Regeln der Moral noch der Sittlichkeit. Deshalb hatte Tabitha beschlossen, sich ihren eigenen Kodex zurechtzulegen. Und dieser gestattete es ihr, Kyron ihr Mitgefühl zu zeigen.

„Was bedrückt dich?" fragte sie leise, denn sie wollte ihn nicht vor den anderen bloßstellen. Eine Weile schwiegen sie beide und Tabitha begriff, dass ihre Vorsicht unnötig war. Denn seit Kyron verstummt war, hatten Miriam und Martha begonnen, angeregt miteinander zu tratschen. Dan dagegen sang ohnehin schon die ganze Zeit ein und dieselbe Strophe von einem Kinderlied und schien dabei ganz in sich selbst versunken.

„Es ist nichts", erwiderte Kyron, doch die Art und Weise, wie er es sagte, stand im klaren Widerspruch zu seinen Worten.

„Sicher?", gab Tabitha zurück und er zuckte zur Antwort mit den Schultern.

„Der Herr empfängt heute Abend seine Steuereintreiber", sagte Kyron irgendwann tonlos und Tabitha wusste sofort, was er damit meinte.

Der Umstand, dass Eleazar Kyron seiner Frau zum Geschenk gemacht hatte, hinderte ihn nämlich nicht daran, ab und an seine Begierde mit ihm zu befriedigen. Besonders wenn seine beruflichen Treffen auf die späten Abendstunden fielen und Eleazar bereits einiges an Wein getrunken hatte, schickte er gerne die anderen Lustsklaven weg und ließ Kyron kommen. Tabitha hatte immer wieder vorgeschlagen, Eleazar zur Rede zu stellen, doch Kyron hatte sie jedes Mal derart inständig angefleht, es nicht zu tun, dass sie schließlich aufgehört hatte, ihre Hilfe anzubieten. Das Leben, das ich dank eurer Güte führen darf, hatte er ihr erklärt, ist ein einziges Geschenk. Ich will nicht wegen ein paar Nächten alles verderben. Dann lieber die Zähne zusammenbeißen und warten, bis es vorbei ist, hatte er noch mit gepresster Stimme ergänzt.

Tabitha nickte, drückte seine Hand wie zur Ermutigung und ließ sie dann vorsichtig los. Dabei dachte sie an Eleazar und zwar, im Unterschied zu Kyron, nicht an das, was er tun würde, sondern an das, was er nicht tun würde. Denn seit ihrer Hochzeit vor gut einem Jahr, hatte Eleazar die Ehe noch kein einziges Mal vollzogen. Gewiss, es stand ihm eine ansehnliche Auswahl an Dirnen und Lustsklaven zur Verfügung, wobei er letzteren den klaren Vorzug gab. Doch hatte er Tabitha auch gesagt, dass es sein Wunsch war, zahlreiche Nachkommen mit ihr zu zeugen. Wenn das so ist, dachte Tabitha einmal mehr, sollte er langsam damit beginnen.

In der Zeit ihrer Schwangerschaft hatte sie noch vermutet, Eleazar würde das eheliche Bett meiden, um später sicher sein zu können, welcher Knabe sein eigener Sohn war und welcher ein Bastard. Doch in den letzten Wochen fand sie keine Erklärung mehr für sein Verhalten. Denn das Kind der Sukkot-Nacht war schon vor Monaten tot zur Welt gekommen. Gerade heute hatte Tabitha mit ihrer Mutter über ihre ehelichen Sorgen gesprochen und von ihr einen einigermaßen unbrauchbaren Rat erhalten. Du musst lieblicher sein, sanfter, hatte sie gesagt, führ ihn in Versuchung. Wenn du dich immer so hart gibst und streng, ist es kein Wunder, dass er kein Verlangen nach dir hat. Eine Frau, die herrisch ist und stolz, verdirbt dem Mann die Liebeslust. Tabitha schüttelte verärgert den Kopf. Sie würde sich ihrem Gatten bestimmt nicht anbiedern. Schließlich war er es gewesen, der sie um jeden Preis hatte heiraten wollen.

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