Mit einem letzten bedauernden Blick auf Jonathan war Tabitha der Dienerin gefolgt, hatte an der Seite der Mutter gegessen, getrunken und gelacht, sich mit den Freunden der Eltern über Belangloses unterhalten, ganz wie es sich für eine junge Frau aus dem priesterlichen Adel gehörte. Dann später, als die Zungen der Männer vom Wein schwer wurden und die Mutter in ein Gespräch mit ihrer jüngeren Schwester vertieft zu sein schien, stahl sie sich davon. Mit bewusst ruhigen Schritten brachte sie immer größeren Abstand zwischen sich und die Laubhütte ihrer Eltern. Zielstrebig ging sie in Richtung jenes Dattelhains, in dem Jonathan und sie all die Jahre als Kinder Verstecken gespielt hatten. Der Garten war gepflegt, ruhig und friedlich standen die Bäume da, abseits der Festgesellschaft. Am Himmel leuchteten die Sterne. Der Abend war mild, gedämpft drangen die gut gelaunten Stimmen der Feiernden zwischen den Palmen zu ihr durch.
Tabitha ging weiter, sie dachte an Jonathan. Weißt du, was ich begriffen habe, hatte er ihr vor ein paar Tagen zugeflüstert, während sich ihre Väter über Geschäfte unterhalten hatten. Du bist die Idee der Schönheit. Und auf ihren verwunderten Blick hin hatte er gelacht. Die Idee der Schönheit ist das Urbild alles Schönen, sie macht das Schöne schön, sie ist vollkommen, unveränderlich. Dann hatte er sich für einen kurzen Augenblick zu ihr gebeugt, wie als ob er sie küssen wollte. „Jonathan!" Sie rief seinen Namen. Was für eine wundervolle Nacht, dachte sie. Und doch war da auch eine Unsicherheit. Warum hatte er sich so plötzlich von ihr verabschiedet, war aufgebrochen, noch bevor das Fest richtig in Gang gekommen war? Hinter ihr hörte sie Schritte im feinen Kies des Weges. Sie drehte sich um. Doch der Mann, der hinter ihr stand, war nicht der, den sie erwartet hat.
„So weit weg von den Eltern?" erkundigte er sich, doch die Frage klang wie eine Drohung.
„Ich habe nach jemanden Ausschau gehalten", antwortete Tabitha knapp und versuchte am anderen vorbei die Distanz abzuschätzen, die sie von der Festgesellschaft trennte.
„Aber der ist nicht da", erwiderte die dunkle Stimme ihr gegenüber.
„Nein", sagte sie und sie spürte, wie ihr Herz klopfte und eine Enge ihre Brust umschloss. Vorsichtig atmete sie, als wäre sie nicht sicher, ob es ihr gelingen würde.
„Vielleicht kann ich dir Gesellschaft leisten", erwiderte der Mann und seine Worte hatten einen schmierigen Klang, der Übelkeit in ihr auslöste. „Wir kennen uns." Er griff nach ihrem Handgelenk. Die Kraft, die er aufwandte, um sie festzuhalten, war unmäßig. Unmäßig zu der Zartheit ihrer Hand, zu der Zartheit des Körpers des Mädchens.
„Ja, ich weiß. Ruben ben Giora, Ihr seid ein Geschäftspartner meines Onkels", antwortete Tabitha beinahe bittend, als ob das ein Argument sein könnte, sie gehen zu lassen. Dort, wo die Lichter brannten und die Menschen lachten, wurde gerade zum Tanz aufgespielt. „Ich sollte jetzt zurück gehen", sagte sie und bemühte sich entschlossen zu wirken, aber ihre Stimme zitterte. Der Druck um ihr Handgelenk wurde stärker und mit der zweiten Hand griff er nach ihrem anderen Arm. Ruben zog sie an sich. Er roch nach Schweiß und billigem Wein.
„Gleich, gleich", flüsterte er höhnisch, „gleich kannst du zu deiner Familie gehen, aber erst wirst du mir ein wenig die Zeit vertreiben." Mit aller Kraft versuchte Tabitha, die Distanz zwischen ihnen zu wahren, doch er zog sie mit einem kräftigen Ruck an sich. Er drückte seine Lippen an die ihren und zwängte seine Zunge in ihren Mund. Sie würgte. Für einen kurzen Augenblick wich sein Kopf zurück, sie kämpfte gegen den Griff seiner Hände an, spuckte ihm ins Gesicht. Im nächsten Moment spürte sie einen gewaltigen Schlag gegen ihre Schläfe. Ihr wurde schwindlig.
„Verfluchte kleine Göre, dein Vater hat dir wohl keinen Gehorsam beigebracht!" keuchte Ruben dicht neben ihr. Er schlug ihr in den Bauch. „Dir und der ganzen verzogenen Seraja-Brut!" Tabitha ging in die Knie, krümmte sich. Jetzt endlich gab er ihr Handgelenk frei. Ihre Finger fühlten sich taub an. Mit der freien Hand griff er ihr in den Nacken. Wie ein Joch aus Eisen krallten sich die kalten feuchten Finger in ihre Haut. Er drückte ihr Gesicht auf den Boden. Kurz schloss sie die Augen. Auf ihren Lippen schmeckte sie sandige Erde und das Blut, das aus ihrer Nase rann. Ich muss schreien, dachte sie, man wird mich hören. Aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Sie japste nach Luft. Sie spürte, wie er seine andere Hand hastig bewegte. Er löste seinen Ledergürtel.
„Dann müssen wir wohl ein bisschen nachhelfen", zischte er böse. Ein Lufthauch. Mit Wucht prallte der Gürtel auf ihrem Rücken auf. Fast schöpfte sie etwas Hoffnung. Vielleicht will er nur seine Wut an jemandem auslassen, sagte sie sich, und lässt mich dann gehen. Der zweite Schlag, der dritte Schlag zerriss den dünnen Stoff ihres Kleides. Er steigerte das Tempo. Sie wand sich unter dem Schmerz. Ihre Gedanken gingen wild durcheinander. Es ist nicht so schlimm, versuchte sie sich einzureden, nur ein paar Schläge und du bist wieder frei. Doch der brennende Schmerz auf ihrem Rücken durchzog ihr Fleisch, schien mit jedem Schlag tiefer einzudringen. Sie atmete schwer. Nun wollte sie nicht mehr schreien, wollte ihm nicht zeigen, dass er ihr wehtat. Sie biss auf ihre Unterlippe, noch mehr Erde, noch mehr Blut.
Irgendwann hörte er auf. Er drehte sie um, Steinchen pressten sich in ihren wunden Rücken. Dann legte er beide Hände um ihren Hals. Sie waren groß und es gelang ihm leicht ihn zu umfassen.
„Du hast so schöne Augen", flüsterte er böse und fügte dann zynisch hinzu: „Willst du jetzt ein braves Mädchen sein?" Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er seine Hände um ihren Hals zu. Tabitha spürte, wie das Blut in ihre Schläfen schoss, den Puls wie hämmernde Schläge an der Stirn, die den Schädel zu zerbersten drohten. Der Schwindel kehrte zurück. Ich werde sterben, dachte sie. Am Abend des Sukkot-Festes. Da ließ er los. Mit zwei Fingern drückte er ihr Unterkiefer zusammen, sodass sie vor Schmerz eine kleinen erstickten Schrei ausstieß. „Hast du genug?" herrschte er sie in einer aufbrausenden Wut an. „Hast du genug?"
„Ja", antwortete sie leise, kaum hörbar, flehend. Ein schmutziges Lachen durchzog sein vom Schweiß glänzendes Gesicht. „Gut, so", stellte er trocken fest und ließ ihren Unterkiefer los. Dann tätschelte er ihre Wangen, auch das grob. „Du wirst also ein gutes Mädchen sein?" fragte er drohend und voller Genuss.
„Ja", flüsterte Tabitha wieder und der Ekel stieg in ihr auf. Verachtung vor sich selbst, weil sie sich von ihm einschüchtern hatte lassen. Doch sie hatte Angst. Es war ihr, als hätte die Angst ihren Körper zusammen geschnürt zu einem elenden zitternden Bündel, das zu nichts mehr fähig war, als zu allem Ja zu sagen, was Ruben von ihr verlangte.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...