„Er soll aufhören und zwar sofort!" brüllte der Zenturio unbeherrscht, während er hastig den Turm oberhalb des Haupttores erklomm. Sofort machten sich zwei Soldaten auf und eilten zur anderen Seite des Tores, wo der diensthabende Wachmann in regelmäßigen Intervallen mit dem Knauf seines Schwertes gegen eine bronzene Platte schlug. Als die Alarmschläge abrupt verstummten, waren im Hof nur noch die barschen Befehle des Optio zu hören, unterlegt vom Lärmen der mehr als hundert Soldaten, die zwischen den Baracken verteilt eilig ihre Rüstung anlegten und begannen, sich auf dem Platz hinter dem geschlossenen Tor zu formieren.
Von seiner erhöhten Position aus beobachtete Zenturio Marcus Ampius Balbus nun nervös jene Gruppe von Männern, die etwa eine halbe Meile vom Lager entfernt schnellen Schrittes auf ihn zukam. Ein Legionar bemühte sich unterdessen, die Lederschnallen am Brustpanzer seines Vorgesetzten zu schließen, wobei ihm angesichts der Unruhe des Zenturios nur mäßiger Erfolg beschieden war. Wie die übrigen Römer auch hatte Balbus bei den ersten Alarmsignalen seine morgendlichen Aktivitäten jäh unterbrochen und war in noch unfertiger Montur in Richtung Turm gelaufen. Der Soldat neben ihm hatte inzwischen vom Brustpanzer abgelassen und bemühte sich stattdessen, mit einem dünnen Riemen in den unsicheren Händen den Umhang des Offiziers zu befestigen. Der Zenturio selbst blickte angestrengt in die aufgehende Sonne und zog dabei seinen Helm straff. Seine Augen hatten sich noch nicht an das grelle Licht des Tages gewöhnt und so hatte er Mühe, die genaue Anzahl der Feinde auszumachen.
„Lurio!" rief er laut, woraufhin der Optio sich sichtlich beeilte, die wenigen Sprossen bis zum ersten Kontrollposten des Hauptturmes hinaufzuklettern. „Lurio, was ist das für Gesindel?"
Der Optio war deutlich älter als sein Vorgesetzter, die zahlreichen Ordnen, die er auf seiner Rüstung trug, zeigten, dass er sich im Kampf bereits mehrfach ausgezeichnet hatte. Balbus dagegen hatte noch wenig Erfahrung. Er stammte aus einer wohlhabenden römischen Familie und hatte sich erst wenige Monate zuvor den Truppen des Pompeius angeschlossen. Seine Position als Zenturio hatte er freilich bereits in Rom inne gehabt, ein Sprungbrett für seine militärische Karriere, seinem sozialen Rang geschuldet. Man hatte ihm sogar die Wahl zwischen Gallien und Syrien gelassen. Seine eigenen Sympathien für Pompeius und die Freundschaft, die seinen Bruder Titus mit dem siegreichen Feldherrn verband, hatten ihm die Entscheidung leicht gemacht.
Seit drei Monaten war Balbus nun für den kleinen Vorposten bei Para zuständig. Sein Aufgabengebiet war überschaubar. Er organisierte Patrouillen, die den letzten Abschnitt der Straße zwischen Jerusalem und Jericho kontrollierten. Balbus legte viel Wert auf Disziplin und Ordnung, was zur Folge hatte, dass seine Zenturie die meiste Zeit des Tages mit dem Exerzieren und Warten der Ausrüstung beschäftigt war. Während Balbus auf die Antwort seines Optios wartete, blickte er hinunter in den Hof und ein schmales Lächeln huschte über seine Lippen: In der kurzen Zeit seit dem ersten Alarmsignal hatten sich seine Männer in voller Kriegsmontur formiert und waren nun offensichtlich kampfbereit.
„Es sind Juden, Domine, es scheint, als ob sie uns angreifen wollten", erwiderte Lurio endlich.
„Das sehe ich auch", antwortete der Zenturio ungehalten und fügte hart hinzu: „Gib den Befehl, die Bogenschützen in Position zu bringen. Wir lassen sie näher herankommen, ich will keine Munitionen verschwenden."
„Ja, Domine", rief der Optio und hatte dabei bereits damit begonnen, die Leiter hinunter in den Hof abzusteigen. Da hielten ihn die Worte seines Vorgesetzten zurück.
„Noch etwas, Lurio. Die erste Hälfte der Zenturie soll sich zum Ausrücken vorbereiten!"
Der Optio erstarrte. Wie die übrigen Vorposten auch war die Befestigungsanlage darauf ausgerichtet, dass die Garnison sich verschanzen konnte, während der Feind außerhalb der Tore seine Kräfte verschleißen sollte.
„Meint ihr, es ist ratsam auszurücken, Domine?" fragte Lurio mit der gebotenen Höflichkeit.
„Seit wann werden meine Befehle diskutiert, Optio?" herrschte ihn der Zenturio wütend an. „Ich weiß weder, wer diese Landstreicher sind, noch was sie wollen, aber ich werde ihnen zeigen, was es heißt, Rom anzugreifen."
„Ja, Domine", erwiderte der Optio abermals, wenngleich ohne großer Überzeugung.
„Und Lurio, lass die Pferde zäumen!"
„Die Pferde?" fragte der Optio ungläubig, denn in all seinen Dienstjahren hatte er es nicht einmal erlebt, dass man die Reiterei zur Verteidigung einer Befestigungsanlage eingesetzt hätte.
„Habe ich mich etwa nicht klar ausgedrückt?" brüllte Balbus und das Blut schoss ihm in den Kopf.
„Ich lasse die Pferde zäumen, Domine", erwiderte der Optio matt, schüttelte verhalten den Kopf und machte sich dann endlich auf den Weg, die Befehle des Zenturios weiterzuleiten.
Die Gruppe der Angreifer war mittlerweile näher gekommen. Vielleicht 200 Schritte, schätzte der Zenturio. Er drehte sich kurz um, um sich zu vergewissern, dass seine dreißig Bogenschützen in Position waren, dann hob er entschlossen die Hand. Bald, sehr bald würde der Spuk vorbei sein, würden die Soldaten den ungeordneten Angriff der jüdischen Rebellen abgewehrt haben. Jetzt, da sich seine Augen an das helle Sonnenlicht gewöhnt hatten, konnte Balbus erkennen, dass die Männer weder Schild noch Rüstung trugen.
„Barbaren", zischte er verächtlich durch die Zähne, „blinde Fanatiker." Dann ließ er seinen Arm abrupt fallen. Sogleich erfüllte ein lautes Zischen die Luft, und die Pfeile stiegen hoch in den Himmel auf, bevor sie am höchsten Punkt angelangt gleichsam inne hielten und ihren Flug in einer absteigende Parabel vollendeten. Die Schützen stammten allesamt aus einer syrischen Hilfseinheit. Gut ausgebildete Leute, dachte der Zenturio selbstgefällig. Und tatsächlich: Die erste Pfeilsalve hatte den Feind noch nicht getroffen, da schossen die schnellsten unter ihnen bereits ihren zweiten Pfeil ab. Doch das neuerliche Zischen wurde diesmal vom lauten und verzweifelten Geschrei der Verletzten überdeckt.
Einige der Juden waren getroffen worden, einem jungen Mann, der eine Fahne trug, hatte sich ein Pfeil in den Hals gebohrt, er stieß einen gurgelnden Laut aus, schleppte sich noch einige Schritte weiter und sackte dann leblos in sich zusammen. Schnell übernahm ein anderer Kämpfer die Fahne und obwohl gut ein Duzend ihrer Kameraden tot oder schwer verletzt am Boden lagen, stürmten die übrigen weiter gegen den Vorposten an. Die Stille des Morgens hatte sich in ein Meer aus Geschrei und Stöhnen verwandelt. Die zweite Pfeilsalve forderte noch mehr Opfer, unter den Angreifern breiteten sich allmählich Enttäuschung und Verzweiflung aus. Die ersten begannen zu fliehen und versuchten sich außerhalb der Reichweite der Bogenschützen zu bringen.
„Armseliges Gesindel", spottete Balbus verächtlich und fügte an seinen Optio gewandt hinzu: „Lurio, lass die Reiter ausrücken, sie sollen die Feinde stellen. Ich selbst will die Haupttruppe anführen und du kommst mit mir!"
Der Optio wagte nicht, seinem Vorgesetzten noch ein weiteres Mal zu widersprechen. Jedoch zeigte sein missbilligender Blick deutlich, wie wenig er vom unkonventionellen Vorgehen des jungen Zenturios hielt. Die Juden zogen sich unterdessen ungeordnet vom Lager zurück. Die Bogenschützen spannten unbeirrt ihre Bögen und fanden ob dem Durcheinander, das außerhalb der Befestigungsanlage herrschte, immer weitere Opfer für ihre Pfeile. Einige Männer bemühten sich, Verwundeten aufzuhelfen oder sie mitzuschleppen, die meisten jedoch versuchten längst nur noch, das eigene Leben zu retten.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...