Gastfreundschaft

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„Jonathan, wo bleibst du?" Hannas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Schnell stand er auf und lief die Stiegen hinunter, wo seine Tante schon auf ihn wartete. Die Diener hatten bereits serviert. Jonathan nahm selbstverständlich auf einer Holzbank Platz und bemerkte erst, als er schon ein paar Bissen von dem noch dampfenden Brot zu sich genommen hatte, dass Hanna sich nicht zu ihm gesetzt hatte.

„Erwartest du Gäste?" erkundigte er sich, denn anders ließ sich die Unruhe der ansonsten so gemütlichen Hausherrin nicht deuten. Jonathan wusste, dass sie gemeinsam mit einigen anderen wohlhabenden Frauen Spenden für elternlose jüdische Kinder sammelte. Bei den zu diesem Zweck durchgeführten Festgelagen speisten Juden und Heiden Seite an Seite, und obwohl Hanna stets betonte, dass Gott ihr die gute Absicht anrechnen würde, war Jonathan insgeheim überzeugt, dass derartige Zusammenkünfte mit Ungläubigen auf keinen Fall den Reinheitsvorschriften der Torah entsprechen konnten. Aber Rom war eben nicht Jerusalem, das hatte er schnell gelernt.

„Nein, aber Josephus braucht dich. Er hat ein paar dringende Aufträge erhalten und bittet, dass du ihm noch etwas unter die Arme greifen könntest, bevor du aus dem Haus gehst", antwortete Hanna.

„Selbstverständlich", erwiderte Jonathan mit vollem Mund und wollte gerade das Brot mit etwas verdünntem Mulsum hinunterschlucken, da legte ihm Hanna beruhigend die Hand auf den Oberarm.

„Iss nur, Junge", sagte sie freundlich. „So viel Zeit muss sein. Die Zahlen werden schon nicht davon laufen." Jonathan schmunzelte. Die Fürsorge der alten Frau war rührend. Hanna, die Josephus in all den Jahren ihrer Ehe keine Kinder hatte schenken können, hatte ihn seit seiner Ankunft wie einen eigenen Sohn verwöhnt und umsorgt. Und da auch Josephus, ein Großcousin seiner Mutter, dessen Großvater einst mit der Gesandtschaft des Judas Makkabäus nach Rom gekommen war, ihn überaus freundlich und zuvorkommend behandelte, ging es Jonathan im Grunde besser als in seinem eigenen Elternhaus. Doch die Sehnsucht nach Tabitha und die Trauer um seine beiden besten Freunde ließen weder Glück noch Zufriedenheit zu.

„Josephus hat doch keinen Ärger, oder?" erkundigte er sich und täuschte, um nicht unhöflich zu sein, echtes Interesse vor.

„Ach, nein", Hanna wehrte ab. „Nur das Übliche, die Mieter zahlen nicht. Aber das ist das ewige Leid."

Jonathan nickte. Er hatte schnell begriffen, dass der sanfte alte Herr mit den weichen Gesichtszügen und dem gepflegten weißen Bart trotz seinem hohen Alter noch ein tüchtiger Geschäftsmann war. Er war der Besitzer von einigen Insulae, jenen Hochhäusern also, die Jonathan von seinem Fenster aus sehen konnte, und er betrieb Zinsgeschäfte, was ihm als gläubigem Juden eigentlich untersagt war.

„Ich will den Onkel nicht warten lassen", sagte Jonathan rasch und stand auf, noch bevor Hanna erneut protestieren konnte. Dann ging er an den Dienern vorbei einen Gang entlang, klopfte energisch an eine Holztür und trat kurz darauf in das Skriptorium des Josephus ein. Der sah kurz von seiner Arbeit auf.

„Jonathan, du bist ein Segen für dieses Haus", begrüßte ihn der Alte herzlich und trotz Jonathans innerer Härte konnte er sich nicht erwehren, für einen kleinen Moment ein angenehm warmes Gefühl in seiner Brust zuzulassen. Ich bin für ihn nützlich, weil ich Griechisch lesen und schreiben kann, sagte er sich, als gelte es für die Zuneigung seines Onkels eine natürliche Erklärung zu finden. Denn Jonathan war von Zuhause kaum freundliche Worte gewöhnt. Zwar hatte er sich der Liebe seiner Mutter und seiner Schwestern immer sicher sein können, doch hatte der Vater nie ein Lob für ihn übrig gehabt. Wenn der Sohn seinen Vorstellungen entsprach, nahm Schlomo das schweigend zur Kenntnis, wenn nicht, griff er zur Rute. Jonathan setzte sich an den Tisch, auf dem Josephus bereits Pergament, Griffel und Tinte vorbereitet hatte, nahm sich mit einem fragenden Blick die oberste Wachstafel vom Stapel und begann auf das Nicken seines Onkels hin die Zahlen und Namen säuberlich auf die Schriftrolle zu übertragen.

In den ersten Tagen hatte er gedacht, Josephus wollte ihn lediglich durch Beschäftigung bei Laune halten. Denn weder die Worte noch die Ziffern, die er kopierte, ergaben irgendeinen Sinn. Mit der Zeit hatte Jonathan begriffen, dass sie kodiert waren. Unter anderen Umständen hätte diese Beobachtung seine Neugierde geweckt und er hätte versucht, die Botschaften zu entschlüsseln. Doch in dem gleichgültigen und selbstmitleidigen Zustand, in dem er sich befand, waren ihm die verborgenen Nachrichten einerlei und er schrieb stumpf und teilnahmslos Zeile um Zeile ab. Einzig dass es sich zum Großteil um Zinsgeschäfte handeln musste, war nicht zu übersehen. Aus der Regelmäßigkeit, mit der gewisse Zahlenabfolgen wiederkehrten, konnte man schließen, dass es sich um Zahlungen handelte, die in klar festgelegten Abständen erfolgten. Sender und Empfänger waren durch die Kodierung geschützt, doch dass kein anderer als Josephus selbst die Zinsen einbehielt, wäre auch für einen Blinden offenkundig gewesen.

Jonathan arbeitete still und konzentriert. Er mochte den Geruch von Pergament und Tinte und nicht zuletzt gefiel es ihm, seinem Onkel zuzuhören, der während der Arbeit geradezu ununterbrochen über die Politik sprach.

„Vor ein paar Jahren war alles besser", hörte Jonathan ihn sagen und überlegte kurz, mit welchem seiner Lieblingsthemen Josephus nun fortfahren würde. „Aber nun sieh dir dieses Rom an!", fuhr Josephus fort und legte kurz den Griffel beiseite, um damit eine theatralische Armbewegung zu vollführen. „Rom kann sich allein nicht mehr am Leben halten. Es ist dazu verdammt, immer neue Länder zu erobern, um sich selbst und die Million Menschen, die in diesen Mauern lebt, zu ernähren. Und das kostet sehr viel Geld, gibt Macht in die Hände von wenigen Männern und diese Männer kontrollieren den Senat." Er seufzte, machte aber kaum eine erkennbare Pause. „Der offiziellen Verwaltung sind die Hände gebunden, die Stadt ist durch und durch heruntergekommen, voll von Legionären, die längst nicht mehr wissen, wem sie dienen und für die keine Arbeit da ist. Und die Generäle und Legaten, ja sogar die Centurionen, sie sind alle bestechlich, aber Sicherheit bekommt man für sein Geld keine." Kurz ging die Tür auf und Josephus hielt einen Augenblick inne. Im Beisein seiner Diener nämlich war er weit weniger gesprächig.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt