Tabitha

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Die Prozession hatte nun den ersten Tempelhof erreicht und während die Liturgie im Tempel von den Männern fortgesetzt wurde, blieb Tabitha mit den anderen Mädchen und Frauen im Vorhof zurück. Der Abend war mild, der Herbst senkte eine kühle Brise auf die Stadt und Tabitha spürte, wie die Anspannung, die sie während dem Opfergang empfunden hatte, langsam wich. Normalerweise hätte sie sich jetzt mit ihrer Mutter in eine der Laubhütten im Kidron-Tal zurückgezogen und sich von den Dienerinnen mit Speis und Trank verwöhnen lassen. Doch in diesem Jahr blieb sie nah beim Eingang des Tempels stehen, denn so würde sie erkennen können, wenn die Priester das Darbringen der Opfergaben beendet hätten, vor allem aber – und das war ihr um einiges wichtiger – würden die, die den Tempel verließen, sie nicht übersehen können. Glücklicherweise begannen sich die kleineren Mädchen gleich um sie zu scharen und sie voller Bewunderung auszufragen, wie es sich anfühlte, zum ersten Mal an der Roschana-Rabba-Prozession teilnehmen zu dürfen. Tabitha war erleichtert, denn sie hätte nur ungern allein vor dem Tempel ausgeharrt, wäre es doch allzu offensichtlich gewesen, dass sie auf jemanden bestimmten wartete. So aber entstand der Eindruck, als wäre sie von der Horde an kleinen Verehrerinnen davon abgehalten worden, die Mutter zu begleiten.

Da sie hören konnte, dass die Männer noch nicht einmal mit dem Hallel-Gebet begonnen hatten, ließ sie sich beim Beantworten der Fragen Zeit und schmückte jeden einzelnen Handgriff so sehr aus, wie es die Erzählkunst nur irgendwie erlaubte. Als ihr beim besten Willen nichts mehr einfiel, begann sie über die Zweige zu sprechen, die sie und die anderen Jungfrauen auf dem Weg vom Siloach-Teich zum Tempelberg mit sich getragen hatten. Da ihr Vater ein gewissenhafter religiöser Lehrer war, fiel es ihr leicht, die Bedeutung von Palmzweigen, Myrte, Bachweiden und Paradiesapfel mit kleinen unterhaltsamen Anekdoten auszuschmücken und sich so der Aufmerksamkeit ihrer Zuhörerschaft zu vergewissern.

„Ihr wisst bestimmt alle, dass der Etrog oder Paradiesapfel an die Frucht des Baumes Hadar erinnert, von der Adam und Eva im Garten Eden gegessen haben. Aber wisst ihr auch, warum der Etrog unversehrt, rein und fleckenlos sein muss, warum nicht einmal die kleinste Spitze abgebrochen sein darf?" Tabitha legte eine theatralische Pause ein und blickte forschend in die Runde. Als sie die vielen großen Augen sah, die sie neugierig und bewundernd anblickten, musste sie innerlich schmunzeln. Wenn ich ein Mann wäre, sagte sie sich, würde ich als Prediger auftreten und Hunderte, vielleicht Tausende von Menschen um mich scharen. Doch im gleichen Moment schämte sie sich ihrer Gedanken. Verzeih mir Herr, betete sie, ich wollte nicht anmaßend sein. Und um dem Nachdruck zu verleihen, rezitierte sie still aus den Psalmen. Mein Herz erhebt sich nicht und meine Augen sind nicht stolz. Ich gehe nicht um mit großen Dingen, mit Dingen, die zu wunderbar für mich sind. Dann setzte sie zu sprechen fort.

„Der Paradiesapfel muss vollkommen sein, weil sein guter Geruch und sein guter Geschmack uns an die Freude erinnern, die dem Gläubigen durch das Studium der Torah und das Halten der Gebote zuteil wird. Außerdem", sie blinzelte den Mädchen verschwörerisch zu, „ist der Etrog ein bewährtes Mittel gegen Unfruchtbarkeit. Und wenn ihr einmal kurz vor der Geburt eures ersten Kindes steht", ergänzte sie ganz so als ob sie genau wüsste, wovon sie sprach, „vergesst nicht von einem schönen Paradiesapfel den Pitum abzubeißen, denn das mildert den Wehenschmerz. Der Myrtezweig dagegen duftet lieblich, ist aber geschmacklos..."

Während sie noch sprach, bemerkte Tabitha, dass die Männer den Gottesdienst beendet haben mussten. Ein allgemeines Gemurmel hatte die Torah-Rezitation und die Gebete abgelöst, in Grüppchen strömten die Gläubigen aus dem Tempel, schlenderten in Richtung der Laubhütten oder verweilten einen Augenblick, um Freunde zu begrüßen. Tabitha musste sich zwingen, weiter an den Myrtezweig zu denken und nicht an Jonathan, den ihre Augen unterdessen längst in der Menge zu suchen begonnen hatten.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt