Jonathan hatte die Stimme des Fremden sofort erkannt, entschied aber abzuwarten, bevor er sein Wissen dem anderen preisgeben würde. Der Mann ihm gegenüber legte ihm die Hände auf die Schultern und übte zugleich einen bestimmten, aber nicht unangenehmen Druck auf ihn aus.
„Baruch Adonai, hoseh ha'arez Israel!", sagte er feierlich, und als Jonathan nicht gleich reagierte, fügte er hinzu: „Willkommen zuhause!"
„Seid gegrüßt, Alexander!", erwiderte Jonathan ruhig und beobachtete dabei, wie der andere seine Kapuze zurückschlug und ihn freundlich anlächelte.
„Ich freue mich, dich wiederzusehen", meinte Alexander. „Und ich bin erleichtert, dass ich dich bei guter Gesundheit antreffe." Die Art, wie er redete, war schlicht, dabei aber aufrichtig. Jonathan war sich dennoch nicht sicher, wie er die Begegnung einordnen sollte.
„So viel Anteilnahme für das Geschick eines einfachen Mannes", gab er spöttisch zurück und war verwundert, als er sah, dass der Königssohn herzhaft lachte.
„Immer sarkastisch", erwiderte er wohlwollend. „Du wirst deinem Ruf gerecht, Jonathan."
Jonathan antwortete nicht. Er war überrascht, wollte sich das aber nicht anmerken lassen. Er hatte nie darüber nachgedacht, was für einen Ruf er haben mochte oder wie er von außen wahrgenommen wurde. Als unterdrückter Sohn eines tyrannischen Vaters? Als Dummkopf, der den Römern ins offene Messer gelaufen war und dafür die schönste und klügste aller Töchter Jerusalems im Stich gelassen hatte? Er seufzte, ermahnte sich aber sofort, dass es nicht der richtige Moment für Sentimentalitäten war.
„Ihr seid verletzt, Herr", stellte er daher trocken fest und deutete mit der rechten Hand auf das steife Bein des Königssohnes.
„Wir haben gekämpft und wir waren unterlegen", gab Alexander ernst zurück. „Aber der Widerstand gegen Hyrkan und die Römer ist noch nicht gebrochen." Er machte eine Pause, ließ Jonathan los und tat einen Schritt nach hinten. „Wir haben eine wichtige Festung verloren, Jonathan. Doch Adonai, unser Gott, wird nicht zulassen, dass unser Volk unter der Knute einer korrupten Macht zugrunde geht. Hörst du, Jonathan, wir dürfen nicht nachlassen, uns zur Wehr zu setzen." Er wartete einen Moment, und als von Jonathan keine Zustimmung kam, fuhr er eindringlich fort: „Du hast uns bereits gezeigt, dass du auf derselben Seite stehst wie wir!" Dann schwieg er. Um sie herum war alles still. Nicht einmal das Tropfen des Wassers konnte Jonathan noch mit Sicherheit ausmachen.
„Herr", sagte er endlich, ohne noch zu wissen, worauf er hinauswollte. Alexander stand ihm gegenüber und sah ihn erwartungsvoll an. Wie kann es sein, dass er mich gefunden hat, fragte sich Jonathan. Immerhin hatte er selbst erst vor zwei Tagen ganz nebenbei von den arabischen Händlern erfahren, dass sie das Jordantal verlassen und über Megiddo zur Via Maris marschieren würden. „Herr", wiederholte er und bemühte sich dabei, so selbstsicher wie möglich zu wirken, „ich fürchte, dass ihr sowohl meine Fähigkeiten als auch meinen Einfluss überschätzt. Ich wüsste nicht, wie ich euch von Nutzen sein könnte."
Alexander lächelte ihm freundlich zu. Mit der rechten Hand griff er nach seinem linken Oberarm und Jonathan staunte einmal mehr über die Kraft und Entschlossenheit, die von dem Königssohn ausging.
„Komm!", forderte er ihn auf. „Ich werde dir etwas zeigen." Er drehte sich um und ging, das linke Bein nachschleifend, auf den Gang zu, der zu ihrer Linken nach oben führte.
Jonathan wartete, ob die Männer ihn wieder an den Armen packen und ihm einen Sack über den Kopf stülpen würden, aber nichts dergleichen geschah. Er war offenbar frei und folgte Alexander nun, ohne dass er dazu gezwungen wurde. Allmählich begriff er die Funktion der unterirdischen Gänge. Es musste sich um einen trockengelegten Teil des ehemaligen Aquädukts handeln. Jonathan wusste, dass das Wasserversorgungssystem von Megiddo in der Vergangenheit eine wichtige militärische Rolle gespielt hatte. Die Stadt war im Laufe der Zeit wegen ihrer strategischen Position wiederholt erobert, bis auf ihre Grundmauern zerstört und wieder aufgebaut worden. Nur selten aber war Megiddo kampflos eingenommen worden und zwar dann, wenn es den Eroberern gelungen war, die Wasserversorgung zu unterbrechen und die Bevölkerung auf diese Weise zum Aufgeben zu zwingen. Irgendwann hatte man aus den bitteren Erfahrungen gelernt und innerhalb der Stadt eine neue Quellenfassung angelegt. In der Folge hatte man den Großteil der alten Aquäduktleitungen und Wasserreservoire ausgelassen und manche von ihnen zugeschüttet. Andere dagegen dienten offenbar der Widerstandsbewegung als Zufluchtsort.
Während sie gingen, sah sich Jonathan um. Die lose Erde, die zum Teil nur notdürftig zur Seite geschoben worden war, deutete darauf hin, dass Alexanders Leute einen Teil der Gänge wieder freischaufeln hatten müssen, um sie für ihre Zwecke zu nutzen. Er hüstelte, worauf hin der Königssohn sich sofort zu ihm umdrehte und ihm ein Zeichen gab, leise zu sein. Auch deutete er ihm, eine Holztreppe hinaufzusteigen. Jonathan gehorchte und bald darauf gelangten sie in einen Gang, der noch um einiges enger, dafür aber trocken war. Nach wenigen Schritten bog er scharf nach links ab, kurz darauf erreichten sie das Innere eines massiven runden Wasserbrunnens, der weitere sechs bis sieben Fuß nach unten führen musste. Der Brunnen war offensichtlich noch in Betrieb, denn unterhalb der Öffnung konnte Jonathan frisches Wasser schimmern sehen. In der kreisrunden Wand waren Einkerbungen angebracht worden, die den Aufstieg erleichterten. Trotz seiner Verletzung kletterte Alexander geschickt vor ihm her und Jonathan tat es ihm nach.
Sie erreichten einen weiteren Gang und kamen, nachdem sie mehrfach abgebogen waren, in einen zweiten senkrechten Schacht. Alexander überließ seinen beiden Begleitern nun den Vorstieg und folgte ihnen erst, als sie ihm von oben signalisierten, dass der Ausgang sicher war. Wieder im Tageslicht, gelang es Jonathan schnell sich zu orientieren. Das Wäldchen, in dem sie sich befanden, lag außerhalb der Stadtmauer, genauer gesagt, gegenüber dem Haupttor. Die Soldaten hatten sich inzwischen strategisch positioniert, sodass sie schnell reagieren konnte, falls sie eine Gefahr entdecken würden.
„Von hier aus können wir mit unseren Kriegern jederzeit in die Stadt eindringen", erklärte ihm Alexander selbstbewusst. „Die Römer meinen, die Festung sei in ihren Händen, aber durch den Brunnen gelangt man unmittelbar auf ihren Übungsplatz. Megiddo gehört uns, wenn wir es wollen."
„Und warum wollt ihr es nicht?", erkundigte sich Jonathan, scheinbar teilnahmslos. Einer der Wachen warf ihm einen bösen Blick zu, doch Alexander schien seine Frechheit eher zu amüsieren.
„Wir haben um Jerusalem gekämpft, als du in Rom warst", meinte er nach einer Weile. Seine Stimme war ernst und von einer tiefen Traurigkeit. „Wir haben viele Brüder verloren. Andere sind in die Sklaverei verkauft worden. Dann haben wir uns in Alexandreion verschanzt und waren wieder unterlegen." Jonathan nickte. Er hatte in den letzten Monaten kaum Nachrichten aus Judäa erhalten, doch was er jetzt hörte, ließ ihn erschaudern. Die Bilder des Krieges tauchten wieder in seinem Inneren auf, das Stöhnen und Brüllen der verwundeten Kämpfer. Und er wusste, es musste ihm endlich gelingen, das Blut und die Todesschreie aus seiner Erinnerung zu verdrängen. „Wir können eine Stadt wie Megiddo aus dem Hinterhalt erobern, aber wir können sie nicht halten", fuhr Alexander sachlich fort. „Nein Jonathan, wir müssen anders vorgehen. In Rom ändert sich die Lage schnell und gerade jetzt zu unseren Gunsten."
„Ja, Herr", erwiderte Jonathan, denn er wollte nicht länger schweigen, bedeutete es doch, mit seinen Gedanken allein zu bleiben. „Das ist auch mein Eindruck", fügte er hinzu. „Ich hätte mit der Gesandtschaft des Ptolomäus nach Ägypten ziehen sollen, stattdessen marschierten wir nach Lukanien, dann nach Ephesus, und nun bin ich in Judäa, von meinen Aufgaben entbunden. Die Politik Roms ist wie eine Fahne im Wind."
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...