Von Gott gelenkt

31 12 3
                                    

Zwar hatte Jonathan seinem Onkel bei dessen politischen Monologen in den letzten Monaten oft nur mit halbem Ohr zugehört, doch um nicht zu wissen, wer der Auletes war und wie es derzeit um Ägypten bestellt war, hätte er taub und blind sein müssen. Selbst die Priester des Iuppiter-Orakels im Tempel auf dem Kapitol schienen derzeit nichts anderes zu tun zu haben, als Prophezeiungen zu verkünden und damit die Entscheidungen der Senatoren in der Ägypten-Frage, wie man sagte, zu untermauern. Anscheinend hatte man sogar erwogen, die Sybillinischen Bücher zu Rate zu ziehen, was bis jetzt allerdings noch nicht geschehen war. Jedenfalls kannte die Politik momentan kaum ein anderes Thema und auch die Menschen auf der Straße unterhielten sich trotz aller Not, die die schweren Regenfälle mit sich gebracht hatten, mit Vorliebe über Ptolomäos, den zwölften Nachfolger von Alexander dem Großen auf dem Thron der Pharaonen. Von seiner eigenen Tochter Berenike vom ägyptischen Königsthron vertrieben, war er vor einigen Wochen in Rom aufgetaucht und hatte sich mit einem Teil seines Hofstaates am Esquilin, im prächtigen Anwesen des Pompeius, eingerichtet. Seitdem gingen die unglaublichsten Gerüchte um. Jonathan selbst hatte sich über Ptolomäus bisher keine großen Gedanken gemacht, doch dass man ihm den spöttischen Beinamen Auletes, Flötenspieler, gegeben hatte, wusste er.

„Ja", sagte er deshalb stumpf und bemühte sich dabei nicht, Interesse vorzutäuschen. Er spürte, wie ihn eine große Müdigkeit erfüllte, und da der Onkel anscheinend nicht vorhatte, ihn auf seine heutigen Verfehlungen anzusprechen, wäre es ihm das Liebste gewesen, sich endlich in sein warmes Bett legen und die Augen schließen zu dürfen.

„Der Gauner hat in den letzten Jahren die Hälfte seines Landes verhungern lassen, die andere Hälfte hat er ausgebeutet, und als das Volk endlich rebelliert hat, ist er mitsamt der Staatskassa nach Rom geflüchtet. Ich darf gar nicht daran denken, dass er Cicero genannt wird. Es ist einfach zu beschämend!"

Jonathan konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Denn der zweite Beiname von Ptolomäos war tatsächlich lathyros, was auf Griechisch Kichererbse bedeutete und auf Latein ausgerechnet dem Beinamen des berühmten Politikers und ehemaligen Konsuls Cicero entsprach. Dabei hätten die beiden Regenten kaum unterschiedlicher sein können. Insgeheim befürchtete Jonathan, dass Josephus nun beginnen würde, Anekdoten über Cicero zu erzählen. Doch dazu war Josephus viel zu aufgebracht.

„Jedenfalls hat der Spottkönig einen recht passablen Plan", fuhr er zynisch fort. „Er hat sich von der Stadtverwaltung und vom römischen Adel so viel Geld geliehen, dass diese Herren nun ein einziges Ziel verfolgen, nämlich den Auletes in Alexandrien wieder als König einzusetzen. Denn wie sonst sollten sie ihr Geld zurückbekommen, von den Zinsen ganz zu schweigen." Josephus hielt kurz inne, sein Atem ging schnell und schwer und Jonathan machte sich bewusst, dass sein Onkel trotz seiner unbändigen Energie längst nicht mehr der Jüngste war. „Nun komme ich von Publius Lentulus Spinther."

Jonathan nickte. Auch was diesen Namen betraf, brauchte er keine zusätzlichen Informationen. Lentulus war einer der zwei amtierenden Konsule.

„Und was erfahre ich?" rief sein Onkel wütend aus. „Hat diese Witzfigur von Auletes doch eine ansehnliche Truppe von Schlägern aus dem Gefolge des Pompeius und vielleicht sogar des Crassus zusammengetrommelt, um mitten in Rom ein abscheuliches Blutbad anzurichten. Sie hatten es auf eine Gesandtschaft aus Alexandrien abgesehen, die vor ein paar Tagen eingetroffen ist und vor dem Senat gegen Ptolomäos vorsprechen wollte. Und heute Nachmittag, während einem Bankett, sind sie allesamt grausam niedergemetzelt worden."

Jonathan schwieg, denn er wusste weder, worauf sein Onkel hinaus wollte, noch warum ihn eine blutige Intrige, wie sie in Rom beinahe zum Alltagsgeschäft gehörten, derart zu erzürnen vermochte. Noch weniger begriff er, warum Josephus ausgerechnet ihm von den Vorkommnissen erzählen wollte.

„Nach diesem Blutbad sind die Dinge nicht mehr, wie sie waren, oder vielmehr, wie sie sein sollten", belehrte ihn Josephus mit etwas ruhigerer Stimme. „Der Auletes kann nun nicht mehr nach Alexandrien zurückkehren. Aber wenn er nicht geht, verlieren sehr viele Leute sehr viel Geld und zwar nicht nur in Rom." Jonathan begann sich zu langweilen, denn die schmutzigen Geldgeschäfte seines Onkels waren ihm schon lange zuwider. „Auch in Jerusalem gibt es viele Männer, die mit Ptolomäos gut bekannt sind." Seine Stimme klang vielsagend und allmählich begriff Jonathan, dass neben den römischen Adeligen möglicherweise auch Josephus selbst und vielleicht sogar sein eigener Vater konkretes Interesse am politischen Erfolg des Ptolomäos haben könnten.

„Jonathan, du bist ein Priester und dein Vater ist der Verwalter des Tempelschatzes. Hyrkan ist sein unmittelbarer Vorgesetzter. Die Hasmonäer pflegen seit Generationen Handelsbeziehungen mit Ägypten." Jonathan wartete. Es war ihm, als würde der Alte es nicht wagen, seine Frage auszusprechen. Man hörte den Regen auf das Dach prasseln. Und als Jonathan zufällig entdeckte, dass sich um die Füße seines Onkels herum eine kleine Pfütze gebildet hatte, musste er insgeheim lachen. Er senkte den Kopf und verbarg das Gesicht in den Händen. Als er wieder aufsah, starrte ihn sein Onkel eindringlich an.

„Jonathan", sagte er noch einmal, „als dich dein Vater hierhergeschickt hat, habe ich mich gefragt: Wozu? Sicher, er wollte dein Leben retten. Aber mehr und mehr begreife ich, dass Gott selbst seine Hand gelenkt haben muss."

Jonathan schnaubte verächtlich. Dass Gott selbst seine Hand gelenkt haben muss, wiederholte er zynisch. Er hatte diese Redewendung in seiner Kindheit einige Male gehört, wenngleich in einem anderen Zusammenhang. Josephus sah ihn fragend an, doch Jonathan schwieg immer noch. Was sollte er schon sagen? Dass er seinen Vater hasste? Und zwar nicht einmal für die Härte und Gefühllosigkeit, mit der er ihn all die Jahre behandelt hatte, sondern dafür, dass er ihn gezwungen hatte, nach Rom zu gehen. Hätte Schlomo ihm erlaubt, sich in Jerusalem zu verstecken, hätte er Tabitha noch vor ihrer Hochzeit aufsuchen können. Er hätte ihr alles erklärt, und dann wären sie gemeinsam geflohen. In irgendein kleines Dorf in den Bergen, wo sie keiner gekannt hätte. Jonathan biss sich auf die Unterlippe. Er hatte nur noch den einen Wunsch, dass dieser Tag endlich zu Ende gehen sollte.

„Nun, mein Junge, sehe ich deutlich vor mir, was der Herr, gelobt sei sein Name, mit dir vorhat." Jonathan runzelte die Stirn, doch sein Onkel ließ sich nicht beirren. „Du musst einige Leute kennenlernen", stellte Josephus schließlich fest und war dabei mit einem Mal wieder ganz der alte, nüchterne Geschäftsmann.

„Solange es nicht heute Abend ist", erwiderte Jonathan und musste sich über seinen eigenen Humor wundern. Josephus schüttelte bedächtig den Kopf und es schien Jonathan, als habe er sogar ein kleines Lächeln auf seinen Lippen entdeckt.

„Nein", antwortete er dann. „Du kannst gehen, aber schick mir meinen Sekretär."

Jonathan verbeugte sich leicht und machte sich sofort auf den Weg in sein Zimmer, denn er befürchtete, dass der Onkel seine Meinung ändern könnte. Als er die Tür öffnete, stieß er beinahe mit Tullius zusammen, der vermutlich die ganze Zeit schon im Flur gestanden und gewartet hatte. Jonathan murmelte eine Art Entschuldigung, stieg dann schnell die Treppen in den zweiten Stock hinauf, betrat seine Kammer, verzichtete darauf, die Öllampe anzuzünden und entkleidete sich im spärlich einfallenden Mondlicht. Als er wenig später die Decke über seinen schmerzenden Rücken zog, nahm er sich noch vor, darüber nachzudenken, was er unternehmen musste, um nach Jerusalem zurückkehren zu können. Doch beinahe im gleichen Augenblick war er bereits eingeschlafen und zum ersten Mal in all den Monaten erwachte er am nächsten Morgen ausgeruht und ohne sich an irgendeinen Traum erinnern zu können.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt