Treppe ins Himmelreich

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Festung Machärus, Peräa, Sommer 56

Es war Mittag. Die Sonne stand hoch am Himmel und obwohl Silas, während er arbeitete, weder nach links noch nach rechts blickte, hatte er längst bemerkt, dass sich die übrigen Soldaten zurückgezogen hatten, um in der heißesten Zeit des Tages im Schatten Zuflucht zu suchen. Nach und nach waren die Geräusche um ihn herum leiser geworden, kein Klopfen am Stein war mehr zu hören und auch nicht das Ächzen der Männer, das die Anstrengung ihnen abverlangte. Silas stemmte einen letzten Gesteinsbrocken in die Höhe, ließ ihn in eine Spalte zwischen zwei alten Mauerstücken rutschen und richtete sich dann mühsam auf. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Während er überlegte, ob auch er sich eine Pause genehmigen sollte, kletterte er auf einen etwas erhöhten Vorsprung und ließ seinen Blick prüfend über die Westmauer gleiten. Die Schlucht, die sich von der Befestigung ausgehend bis zum knapp sechzig Stadien entfernten Asphaltsee erstreckte, zog sich beinahe senkrecht in die Tiefe und ihr Ende war mit freiem Auge nicht auszumachen. Von dieser Seite ist wohl kein Angriff zu befürchten, sagte sich Silas, auch wenn wir die Mauer nur mangelhaft instandgesetzt haben.

Er berührte vorsichtig seinen Oberschenkel und vergewisserte sich, dass der Eiter, der sich in der Verletzung gebildet hatte, noch nicht weiter in das gesunde Fleisch vorgedrungen war. Der Schnitt war nicht sehr tief und Silas hatte ihm anfangs keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Doch in den letzten Tagen war der gelbliche Ausfluss immer dunkler und übel riechender geworden. Im grellen Licht der Sonne schien es Silas sogar, als habe er eine grünliche Färbung angenommen. Silas stöhnte leise. Ein Gefühl von Ekel erfüllte ihn und zugleich machte er sich Sorgen, ob die Wunde denn verheilen würde.

Tabithas Vater hatte in seinem Haus immer wieder Verwundete aufgenommen und Silas erinnerte sich noch allzu gut an die schrecklichen Szenen, die sich abgespielt hatten, wenn ihnen aufgrund einer nicht heilen wollenden Verletzung ein Bein oder ein Arm abgenommen werden hatte müssen. Silas richtete seinen Blick wieder auf den Horizont und zwang sich, die Bilder, welche die Erinnerung in ihm hervorgerufen hatte, zu verdrängen. Wenigstens müssen wir nicht mehr weiterziehen, dachte er. Denn auf der Flucht vor den römischen Truppen war ihnen nichts anderes übriggeblieben, als sich in einem vier Tage dauernden Gewaltmarsch von Alexandreion nach Machärus durchzuschlagen. Jetzt, wo sie in der ehemals stolzen Festung angelangt waren, würde er sein Bein schonen können. Peitholaos hatte ihm sogar verboten zu arbeiten, doch Silas hatte darauf bestanden, mit den übrigen Leichtverletzten die Außenmauer wiederaufzubauen.

„Fünf Ellen", hörte er da die Stimme des Generals und als er zu ihm aufsah, war ihm als würde ihm der andere anerkennend zunicken. „Eine stattliche Höhe in so kurzer Zeit", fügte Peitholaos hinzu, kletterte auf die Mauer und sprang von dort mit einem beherzten Satz auf den Felsvorsprung, auf dem Silas saß.

Noch bevor Silas antworten konnte, warf ihm Peitholaus einen Lederschlauch zu, der mit einer Mischung aus saurem Wein und Wasser gefüllt war. „Wenn man bedenkt, dass es eine sinnlose Arbeit ist", stellte Peitholaos bitter fest und an Silas gerichtet fuhr er im Befehlston fort: „Trink!"

Silas führte den Schlauch zum Mund. Während er trank, setzte sich Peitholaos zu ihm. Sein Blick war auf die Ostseite der Anlage gerichtet, welche seine Männer mit dem wenigen Material, das ihnen zur Verfügung stand, notdürftig befestigt hatten. Im Jahr zuvor hatte Gabinius den steilen Weg von der Unterstadt bis zur Festung schleifen lassen. Auch hatten seine Soldaten die Hauptmauern dem Erdboden gleich gemacht und so hatte Machärus ähnlich wie Alexandreion außer einer gewaltigen Zisterne, die den Wasservorrat für mehrere Monate fassen konnte, nicht mehr viel zu bieten.

„Wir werden die Zisterne nicht brauchen", sagte Peitholaos leise und Silas erschrak, als ihm bewusst wurde, dass sie beide dasselbe gedacht hatten. „Es ist vorbei", fuhr der Offizier nach einer Weile tonlos fort. „Und doch wagt es keiner auszusprechen. Nur ein Wunder könnte uns noch retten."

Silas blieb still. Er wusste nicht, was er sagen sollte, denn obwohl er widersprechen wollte, war ihm klar, dass Peitholaos Recht hatte. Hätten alle Männer auf eure Befehle gehört, hätten wir Alexandreion halten können, wollte er erwidern, doch er schwieg. Sie waren gut achttausend Soldaten gewesen, dazu mindestens tausend Reiter und weitere fünftausend Juden, die zwar keine Waffen besaßen, dafür aber bereit waren, sich den Römern in den Weg zu stellen und mit bloßen Händen zu kämpfen. Aristobolus und sein Sohn Alexander hatten leidenschaftliche Reden gehalten und in ihnen die Hoffnung genährt, dass sie Jerusalem einnehmen und die Römer aus dem Land vertreiben würden. Silas lachte bitter auf.

Dann spürte er, wie Peitholaos ihm einen Arm auf die Schulter legte. „Es ist gut, mein Junge", flüsterte er beruhigend, „sei nicht böse in deinem Herzen. Wir sind alle nur Menschen."

Silas lachte noch einmal, doch diesmal klang sein Lachen hart und unversöhnlich. Er wand sich unter der Umarmung und Peitholaos ließ ihn los. Dann blieben sie beide stumm und regungslos sitzen. Ein Stück weiter unten am Abhang lag eine zu Trümmern geschlagene Säule, die früher möglicherweise in einem großen Saal als Zierde gedient hatte. Silas nahm einen kleinen Stein in die rechte Hand und schleuderte ihn gegen die Säule, traf sie, nahm den nächsten Stein, warf und traf wieder.

„Du hast viele Talente, Silas", meinte der Feldherr sanft.

„Verflucht mit meinen Talenten", antwortete Silas unbeherrscht und fühlte sich im selben Moment schuldig, weil er sich Peitholaos gegenüber respektlos verhalten hatte. „Verzeiht mir, Herr", stammelte er schnell und stellte zu seiner Beruhigung fest, dass der andere ihm immer noch freundlich und wohlwollend zugewandt war.

Silas deutete mit der Rechten hinunter in Richtung Asphaltsee. Es war unklar, ob er auf das Gewässer zeigen wollte oder auf die Festung Alexandreion, die wie ein winziger Punkt weit hinten am Horizont lag. „Da unten, ganz nahe am See, liegt eine große Oase", begann er, denn er wollte das Gespräch auf etwas Unverfängliches lenken. „Sie trägt den Namen von einer Tochter des Ozeans und der Tethis." Und als Peitholaos nichts erwiderte, fügte er verlegen hinzu: „Das sind griechische Götter."

„Ich kenne die Sage", entgegnete Peitholaos mit einem Schmunzeln, „Kallirohe, die Schönfließende, so heißt ihre Tochter." Er wartete kurz. „Weißt du was, Silas", setzte er dann zu sprechen fort. „Dort unten sammelt sich gerade eine römische Legion. Sie baden und schlagen sich den Bauch voll, bevor sie aufbrechen und uns angreifen werden." Wieder unterbrach er sich. „Und was tun wir?" Er schüttelte verächtlich den Kopf. „Wir haben noch achthundert Männer, allesamt müde, hungrig, die Mehrzahl verletzt. Aber wir, wir beginnen, eine Festung aufzubauen. Warum bauen wir uns nicht gleich eine Treppe ins Himmelreich?"

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