Am Schiff angelangt, wurden ihnen Plätze an den Rudern zugewiesen. Sich hinzusetzen, kostete Silas einiges an Überwindung, aber da er keine Wahl hatte, versuchte er sich innerlich auf den Schmerz vorzubereiten und legte auch gleich die offenen Hände auf das Ruder, damit er so wenigstens alles auf einmal ausgestanden hätte. Während er die monotonen Bewegungen ausführte, wurden die Schmerzen allmählich leichter. Es gab einen Aufseher, der auf einem Hohlholz den Takt schlug, und einen, der sie mit strengem Blick beobachtete, ansonsten aber in Ruhe ließ. Nicht mehr lange, sagte sich Silas und es gelang ihm tatsächlich, dasselbe Gefühl der Zufriedenheit wieder heraufzubeschwören, das er schon am Morgen empfunden hatte.
Nicht mehr lange, wiederholte er auch später, als man sie rasten und essen ließ, und am Abend, als er mit den anderen Sklaven in einem kleinen Verschlag hockte und die Stofffetzen von seinen Händen wickelte. Am Rand der offenen Blasen bildete sich allmählich neue Haut, und da Silas von Charilaos gelernt hatte, dass frische Luft die Wundheilung fördert, hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, die Binden nach der Arbeit zu lösen. Das ist jetzt eigentlich nicht mehr nötig, ging es ihm durch den Kopf, doch da er nicht wusste, wieviel Zeit noch vergehen würde, bis er seinen Plan ausführen konnte, schien es ihm doch von Vorteil, an seinem bisherigen Vorgehen festzuhalten. Auch wird es mit gesunden Händen leichter sein, die Waffe zu führen, dachte er und erschrak ihm nächsten Augenblick, denn in der Tür stand einer der Aufseher und deutete ihm mitzukommen.
Silas stand also auf und folgte dem Ägypter zunächst in den schmalen Gang, von dem er wusste, dass er zu den Ruderbänken führte, dann eine Treppe hinauf in einen weiteren Gang und schließlich in einen breiten, prunkvoll ausgestatteten Raum. Eine Armesbreite von den Wänden entfernt befanden sich zarte Säulen, dazwischen weich gepolsterte Bänke, deren Kissen mit rotem und blauem Leinen bezogen waren. Die Fenster waren mit kunstvoll geschnitzten Läden verschlossen, die ebenfalls aus Holz gearbeitete Decke zierten geometrisch angeordnete Blumenmuster. Während sich Silas noch umsah, entzündete der Aufseher mit seiner Fackel vier Feuerschalen, welche die Ecken des Saales markierten.
„Warte hier", befahl er knapp und ließ Silas allein zurück. Die Tür wurde zugezogen und ein Riegel vorgeschoben. Silas tat ein paar Schritte in den Raum hinein. Am hinteren Ende stand ein Tisch, der mit Ausnahme von einem schweren Tonkrug und zwei Bechern kahl war. Das ist also der Ort, wo ich meinen Herrn wiedersehen werde, ging es ihm durch den Kopf. Denn wer sonst sollte ihn noch sprechen wollen, wenn nicht Anek, den das Werk der letzten Nacht offensichtlich nicht hinreichend befriedigt hatte. Es ist das, was du wolltest, sagte sich Silas, als könnte er damit die aufkeimende Angst unterdrücken. Doch er hatte keine Waffe. Noch einmal ließ er seinen Blick prüfend durch den Raum gleiten. Die Becher waren zu zart, den Tonkrug könnte er zerbrechen, aber das wäre zu laut und würde Aufsehen erregen, noch bevor er sein eigentliches Werk vollbringen würde können. Die Fensterläden schließlich wurden lediglich mit feinen Holzstiftchen zusammengehalten. Silas seufzte. Wie es aussah, würde er Anek einmal mehr unvorbereitet gegenüber stehen müssen und keine andere Wahl haben, als die Misshandlungen auszuhalten, die sich sein Herr für ihn ausgedacht hatte.
Er spürte, wie seine Knie zu zittern begannen, und zwang sich, fest und still zu stehen. Er richtete sich auf und sah gerade aus auf die Wand hinter dem Tisch. Da fiel ihm auf, dass die Holztäfelung eine Ausbuchtung besaß, in der sich ein kleines Anch-Kreuz befand. Silas ging näher an die Wand heran. Das Kreuz schien aus Kupfer, sein Ausläufer war spitz und man würde es sowohl gebrauchen können, um einen Schlag zu verstärken als auch um einem Gegner eine ernsthafte Stichwunde zuzufügen. Nicht zuletzt war es gerade so groß, dass es bequem in eine Handfläche passte. Zwar war die Spitze zu lang, doch würde sie unterhalb des Handgelenkes nicht auffallen. Schnell nahm Silas das Anch an sich. Dann ging er wieder um den Tisch herum und drehte sich mit dem Gesicht zur Tür, sodass er seine Hände besser hinter dem Rücken verbergen konnte.
Nun bin ich also bereit, sagte er sich und empfand dabei doch nicht mehr die Leichtigkeit, die ihm der Gedanke an den Tod den ganzen Tag schon geschenkt hatte. Doch es war nicht das eigene Leben, um das es ihm leid war, sondern das Leben seines Feindes. Im Kampf zu töten war ehrenhaft, aber aus einem Hinterhalt? Silas zögerte. Sollte er das Kreuz zurückbringen? In dem Moment wurde die Tür geöffnet, und da Silas ganz und gar in seinen Gedanken gefangen war, vergaß er seinen Blick zu senken. Die Tür fiel ins Schloss und vor ihm stand nicht Anek, sondern Nayla. Sie sah ihm in die Augen und lächelte sanft. Zwei Sklavinnen hatten sie begleitet und als Nayla ihnen zunickte, nahmen sie sich ein paar Kissen von den Bänken und setzten sich in der Nähe einer Feuerschale auf den Boden.
„Wie geht es dir?" fragte Nayla freundlich. Sie hatte ihr Haar aufwändig hochgesteckt, nur eine einzige schwarze Locke fiel über ihre linke Schläfe und berührte mit ihren Spitzen den Stoff, der die Brust der jungen Frau verbarg.
„Gut", erwiderte Silas schnell.
Nayla zog skeptisch die Augenbrauen hoch. „Deine Wunden?"
„Sie werden verheilen", sagte Silas und überlegte dabei fieberhaft, wie er das Anch in seiner rechten Hand wieder loswerden konnte.
„Deine Hände?" erkundigte sich Nayla und ging einen kleinen Schritt auf ihn zu.
„Was ist mit meinen Händen?" gab Silas zurück.
„Ich habe gesehen, dass du sie bei der Arbeit verbindest." Naylas Worte waren wohlwollend. „Du bist die schwere Arbeit nicht gewöhnt", ergänzte sie und kam noch ein wenig näher. „Dafür brauchst du dich nicht zu schämen."
Silas hielt die Luft an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er sah in ihre tiefen schwarzen Augen und er wünschte, er könnte sich darin verlieren. „Zeig mir deine Hände", hörte er sie sagen und zuckte abwehrend mit den Schultern. „Na mach schon. Ich habe eine Salbe mitgebracht, die dir gut tun wird." Ihre Stimme war jetzt streng. Jetzt endlich hielt Silas seiner Herrin die Hände hin. Langsam öffnete er sie und wusste, dass sich ihrer beider Augen in dem Moment auf dem Anch-Kreuz vereint hatten.
„Was ist das?" fragte Nayla ernst und als Silas nicht antwortete, fügte sie scharf hinzu: „Ich nehme an, du wolltest nicht zu unseren Göttern beten."
„Nein, das wollte ich nicht", entgegnete Silas tonlos. „Ich habe jemand anderen erwartet."
Einen Moment blieb es still. „Bring es dorthin zurück, wo du es her hast", fuhr ihn Nayla an. Sie wirkte dabei unbeherrscht, fahrig.
„Ich wollte euch nicht enttäuschen", sagte Silas leise.
„Hast du mich nicht gehört?" zischte sie, und Silas ging langsam zu der Stelle, wo er das Anch gefunden hatte. Er gab sich Mühe, seinen Schritten eine gewisse Würde zu verleihen. Was würde jetzt geschehen? Er verbat es sich, die Frage zu beantworten. Vorsichtig stellte er das Metallkreuz zurück. Dann näherte er sich wieder seiner Herrin, die Augen nun auf den Boden gerichtet.
„Was werdet ihr mit mir tun?"
Nayla schwieg. Auch sonst war es still. Die beiden Sklavinnen, die zuvor noch miteinander geflüstert hatten, hockten jetzt stumm in ihrer Ecke.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...