Nordöstlich des Asphaltsees, Spätsommer 56
Die alte Frau reichte Silas einen Teller mit warmer Linsensuppe und ein Stück trockenes Fladenbrot, das er dankbar annahm. Er war hungrig und fühlte sich kraftlos. Die Wunde an seinem Oberschenkel war zwar verheilt, das Bein schmerzte aber noch immer, besonders wenn er längere Zeit gehen oder schwere Lasten tragen musste. Die Schulterverletzung dagegen versetzte ihm beinahe bei jeder Bewegung einen mehr oder weniger heftigen Stich. Während der letzten beiden Tage hatte Silas kaum geschlafen. Der Angriff, den er gemeinsam mit seinen Männern auf einen Transportwagen, der sich am Weg von Jerusalem nach Jericho befand, durchgeführt hatte, war fehlgeschlagen. Sie hatten Verluste erlitten und nicht einmal die Flucht war ihnen reibungslos gelungen.
Obwohl die Suppe noch heiß war, begann Silas hastig zu essen. Es war eine Gewohnheit aus der Zeit, als er noch Sklave in Ägypten war und sich nie sicher sein konnte, ob die bereits verteilten Speisen aus einer Laune Aneks heraus wieder eingesammelt oder anders verteilt wurden. Boaz dagegen, der sich gerade zu ihm gesetzt hatte, wartete und nahm inzwischen nur ein paar Bissen von dem Fladenbrot. Kurz darauf betraten auch Josua und sein Bruder Simri das Zelt, zwei Männer aus dem Familienclan, bei dem sie, nachdem sie von Machärus geflohen waren, Zuflucht gefunden hatten. Denn Silas und die anderen Kämpfer hatten schnell feststellen müssen, dass die Wege nach Galiläa wegen den ständigen Kontrollen der römischen Legionen für sie unpassierbar waren. Dem Auftrag des Peitholaos nachzukommen und Alexander zu finden, war eine Sache der Unmöglichkeit, ja sie hatten bereits mehr als genug damit zu tun, von einem Versteck zum anderen zu ziehen, Nahrung zu beschaffen und möglichst keinen römischen Patrouillen in die Arme zu laufen.
Josua betrieb eine kleine Werkstatt, in der auch Simri und dessen Kinder arbeiteten. Sie waren geschickte und tüchtige Handwerksleute, was mit sich brachte, dass sie häufig Aufträge aus dem nahgelegenen Jericho erhielten und manchmal auch in Jerusalem zu tun hatten. Die Brüder wurden von vielen jüdischen Adeligen geschätzt und pflegten außerdem gute Beziehungen zu den Römern, die viel auf ihre Fähigkeiten hielten. Dank dieser Kontakte war die kleine Siedlung vor den Strafexpeditionen der Legionäre einigermaßen sicher. Auch gelang es Josua immer wieder, sich Informationen über die militärischen oder logistischen Pläne der Besatzungsmacht zu beschaffen, was der Familienclan dazu nützte, kleine Störaktionen und Überfälle durchzuführen.
Als Silas und die anderen Männer vor ein paar Wochen in ihrem Dorf aufgetaucht waren und gebeten hatten, eine Nacht lang bleiben zu dürfen, hatte sie Josua aufgenommen, ohne Fragen zu stellen. Dass Silas und seine Begleiter Kämpfer waren, musste angesichts ihrer Verletzungen und ihres schlechten Ernährungszustandes offensichtlich gewesen sein. Und doch schickten die Brüder sie auch am nächsten Tag nicht fort, und Silas kam es mehr als einmal vor, als würde Josua immer wieder einen prüfenden Blick auf das blaue Tuch werfen, das ihm Peitholaos zuletzt überlassen hatte.
In der ersten Zeit hatten sie sich von den Strapazen der Kämpfe erholt und im Dorf mitgearbeitet, sofern es ihre Wunden zuließen. Die Siedlung lag gut geschützt am Fuß einer Anhöhe. Die wenigen Menschen, die dort lebten, hielten Schafe und Ziegen und bewirtschafteten ein paar Felder, die sie auf der Nordseite des Hügels angelegt hatten. Besonders gut gediehen die Dattelpalmen und die Olivenbäume, weshalb sich Silas abends, wenn er allein zwischen den Bäumen hindurch spazierte, oft an seine Mutter und ihr kleines Landgut erinnert fühlte, wo er als Kind stundenlang mit ihr im Schatten der Olivenbäume gesessen und gebannt den griechischen Sagen gelauscht hatte. Hier in der judäischen Wüste jedoch wurden kaum Geschichten erzählt, auch waren die Männer in Wahrheit nicht in erster Linie Bauern und Handwerker, wie Silas rasch bemerkt hatte.
Ihre eigentliche Tätigkeit schien nämlich darin zu bestehen, den regelmäßig durchziehenden Karawanen, welche die unterschiedlichen römischen Lager mit Waffen und Proviant belieferten, aber auch den Pferdewägen, die reiche jüdische und römische Familien zu ihren Villen am Asphaltsee oder den warmen Heilquellen bei Kallirohe brachten, aufzulauern. Letztere waren eine leichte Beute, wurden sie doch nur selten von ausgebildeten Soldaten begleitet. Josua und seine Männer waren aber keine einfachen Wegelagerer, die mit der gestohlenen Ware handelten, um sich selbst daran zu bereichern. Vielmehr waren sie Rebellen, die das erbeutete Gut entweder direkt der Armee des Aristobolus zukommen ließen oder es Zwischenhändlern übergaben, die Schmuck und wertvolle Stoffe gegen Getreide und Waffen eintauschten.
„Sei gegrüßt, Silas", setzte Josua mit gespielter Freundlichkeit zu sprechen an. „Hast du einen angenehmen Vormittag verbracht?"
Bei den letzten Worten war die Melodie seiner Stimme zunehmend bedrohlicher geworden. Silas hörte zu essen auf und erhob sich, denn er wollte Josua zeigen, dass er ihn respektierte. Auch wenn er mich gleich niederbrüllen wird, sagte sich Silas. Denn er hatte den Anführer der Dorfgemeinschaft in der letzten Zeit recht gut kennengelernt. Josua war ein herzensguter Mensch und bedingungsloser Verfechter der Befreiung Judäas von der römischen Herrschaft. Auch war er, als er die geflohenen Kämpfer bei sich aufgenommen hatte, ein großes Risiko eingegangen, denn die Römer, das wusste Silas nur zu gut, gingen mit Verrätern alles andere als zimperlich um. Zugleich aber war Josua aufbrausend und gab sich offensichtlich nicht die geringste Mühe, seine Zornausbrüche einzubremsen.
Am späten Abend hatten sich Silas, Boaz und Elimelech mit ein paar Männern aus dem Dorf auf den Weg gemacht, um eine Weizenlieferung zu überfallen, die am Vormittag aus der Nähe von Jericho in Richtung Damaskus aufbrechen sollte. Laut den Informationen, die Josuas Spitzel beschafft hatten, handelte es sich um drei oder vier Karren mit Weizen, die nur spärlich von Hilfssoldaten gesichert zu sein schienen, von Männern also, die schlecht ausgebildet waren, noch schlechter bezahlt wurden und bei denen es sich oftmals um Freigelassene oder gar Sklaven handelte, die meist recht schnell die Waffen niederlegten oder ihrerseits gegen die eigenen Herren zu rebellieren begannen und sich den Angreifern anschlossen.
Der Auftrag, den Silas hätte erledigen sollen, war daher zumindest in der Theorie einfach. Er sollte die Wägen mit Gewalt beschlagnahmen und sie dann direkt zu einem geheimen Stützpunkt bringen, wo der Weizen umgeladen werden würde. Silas hatte für den Angriff eine günstige Stelle gewählt, einen etwas erhöhten Ort, wo sie sich gut verstecken konnten. Allerdings dürfte genau das der Grund dafür gewesen sein, dass sich der Angriff von Anfang an schlecht entwickelte. Denn aufgrund des Höhenunterschiedes verloren die Rebellen einiges an Zeit, was dem Fahrer wiederum die Gelegenheit ließ, seine Rinder zu töten. Die wenigen Hilfssoldaten, die den Konvoi zu Fuß begleitet hatten, waren zwar schnell außer Gefecht gesetzt, doch ohne Zugtiere war es ihnen unmöglich, den Weizen zu stehlen. Silas hatte also keine andere Wahl, als die Wägen samt ihrer Ladung anzuzünden, damit das Getreide zumindest nicht dazu dienen würde, die römischen Truppen zu ernähren.
Dann hatte er noch eine weitere Entscheidung getroffen, bei der ihm bewusst war, dass sie Josua nicht gefallen würde, und die er mit seiner ganzen Autorität als Anführer gegen die anderen Rebellen durchsetzen musste. Silas weigerte sich nämlich, die von ihnen bezwungenen Männer zu töten oder auch nur zu bestrafen. Sie sind Juden wie wir, hatte er bloß gesagt und den anderen außerdem befohlen, Elimelech mitzunehmen, der sich eine schwere Bauchverletzung zugezogen hatte. Auch in dem Moment war ihm bewusst, dass er Josua gegenüber Mühe haben würde sich zu rechtfertigen. Denn Männer, deren Verletzungen sich nicht gut kaschieren ließen, konnten im Fall einer Durchsuchung durch die Römer ein Todesurteil für das ganze Dorf darstellen, war es doch offensichtlich, dass sie vor nicht allzu langer Zeit in einen Kampf verwickelt gewesen waren.
Im Grunde gab es einen unausgesprochenen Kodex, der den Rebellen in einer solchen Situation gebot, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Doch als Silas Elimelech, nachdem er ihm aus einem Schlauch einen Schluck verdünnten Wein zu trinken gegeben hatte, das Messer reichte, spürte er, dass er im Begriff war, das Falsche zu tun. Wie ihm dann noch sein geschulter Blick sagte, dass Elimelechs Verletzung nicht lebensgefährlich war und wie das Messer in der Hand des anderen so kläglich zitterte, dass es offensichtlich war, wie verzweifelt er an diesem letzten Bisschen Leben festhalten wollte, beschloss Silas kurzerhand, sich einmal mehr gegen das zu stellen, was Josua von ihm erwartete.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...