Bedürfnis nach Strafe

31 12 0
                                    


„O tite tute tati tibi tanta tyranne tulisti", rezitierte Lucius sicher, denn inzwischen hatten sie mit den Sprachübungen zur Lockerung der Zunge begonnen. Der Lehrer nickte ihm anerkennend zu. Immerhin galt der Hexameter des berühmten Poeten Ennius als besonders anspruchsvoll. Als nächstes war Jonathan an der Reihe. Er wählte einen schwierigen Vers, den er sich an den letzten Abenden eingeprägt hatte, die er wie üblich allein in seinem Zimmer verbracht hatte.

„Mimi numinum nivium minimi munium nimium vini muniminum imminui vivi minimum volunt." Auch Jonathan trug selbstbewusst und ruhig vor, Calvus wirkte zufrieden. Als Quintus seinen Spruch aufsagte, schüttelte er dagegen unwillig den Kopf und setzte zu einer ausführlichen Erklärung zur richtigen Aussprache der Vokale in der letzten Silbe an. Normalerweise konzentrierte sich Jonathan auf die Worte seines Lehrers, denn er bewunderte ihn für seine Fähigkeiten und sein Wissen. Auch konnte er der Rhetorik trotz seiner bedrückten Grundstimmung und seiner anfänglichen Abneigung durchaus etwas abgewinnen. Er hatte sogar damit begonnen, eine Rede für Tabitha zu schreiben. Aber heute war er zu abgelenkt, um Calvus folgen zu können. Warum sollte ich nicht leiden, überlegte er, wenn doch Jetur, Silas und Tabitha durch meine Schuld gelitten haben. Gewiss, Silas war aus eigenen Stücken in den Kampf gezogen, ja er war eigentlich derjenige gewesen, der vorgeschlagen hatte, sie könnten sich an der Revolte des Maskils beteiligen. Für seinen Tod zumindest trage ich nicht die Hauptlast, versuchte sich Jonathan zu beruhigen, doch es gelang ihm nicht.

Ein anderer Schüler rezitierte und auch er erntete dafür die Kritik des Lehrers. Aber wie ist Silas gestorben, fragte sich Jonathan. Er meinte sich erinnern zu können, dass Silas mit den Römern gesprochen, vielleicht sogar verhandelt hatte. Er wollte ihrer beider Leben retten. Vielleicht haben sie ihn gefoltert, ging es Jonathan durch den Kopf. Die römischen Besatzer duldeten für gewöhnlich keinen Widerspruch und Silas war stolz, unbeugsam und von einer unvernünftigen Sturheit. Mit einem Mal war sich Jonathan sicher, dass sein Verdacht zutraf. Es war ihm fast, als könnte er den Schmerz des Freundes in der eigenen Brust spüren. Damit war seine Entscheidung gefallen. Ein glatter Lederriemen und ein Platz, wo mich keiner hören kann, wiederholte er bei sich. Aber was für ein Ort konnte das sein? Das Anwesen seines Onkels kam nicht in Frage, denn es gab keine Stunde am Tag, wo nicht irgendein Diener im Haus anwesend gewesen wäre. Davon abgesehen war das Klatschen des Lederriemens, wenn er auf der Haut aufschlug, ein nicht gerade dezentes Geräusch.

„Jonathan, träumst du?" ermahnte ihn Calvus. Auch Lucius sah ihn erwartungsvoll an. Er musste schon vor einer Weile zum zweiten Mal vorgetragen haben.

„Verzeihung, Meister", entschuldigte sich Jonathan schnell und fügte dann, noch bevor er über seine Worte nachdenken konnte, hinzu: „Ich habe mich gerade gefragt, ob ich am Abend etwas länger bleiben dürfte. Ich möchte eine Arbeit fertig stellen, die keine Ablenkung duldet."

„Gewiss", erwiderte der Lehrer, dessen Stimme schon wieder die Strenge verloren hatte. „Aber zuvor bist du so gütig und schenkst deine Aufmerksamkeit dem Unterricht." Jonathan nickte und rezitierte anstelle einer Antwort einen weiteren Vers, von dem er wusste, dass er Calvus gefallen würde: „Malo esse malum malae mali malum bonis malis quam esse bonum bonae mali malum malis malis". Mir ist es lieber, einen schlechten Apfel von einem schlechten Apfelbaum mit guten Zähnen zu essen, als einen guten Apfel von einem guten Apfelbaum mit schlechten Zähnen.

Die restlichen Unterrichtsstunden verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Nach der Lockerung der Zunge setzten sie wie üblich mit den Grammatikübungen fort, dann trugen die Schüler Reden vor, die sie tags zuvor auswendig gelernt hatten. Die meisten stammten von Calvus selbst, manche von Hermagoras. Dann korrigierten sie gemeinsam ihre Fehler und wiederholten ähnlich einer Zauberformel das Credo ihrer Schule: „Inventio, dispositio, elocutio, memoria et actio columnae orationis sunt!".

Alles in allem gelang es Jonathan nun besser, dem Unterricht zu folgen. Immerhin hatte er die Frage nach einem stillen, ungestörten Ort bereits erfolgreich klären können. Calvus würde ihm den Schlüssel anvertrauen. Jonathan sollte den Haupteingang am Abend von innen abriegeln, das Haus über eine kleine Nebentür verlassen und diese von außen versperren. Nur an den Lederriemen musste er immer wieder denken. In einer Pause warf er einen Blick in den Umkleideraum und musterte die Tragriemen der Lederbeutel, die Calvus dort aufbewahrte. Die meisten waren zu dünn oder zu spröde, doch einer hatte eine akzeptable Länge, war ausreichend breit und biegsam. Bevor er zu den anderen zurückkehrte, hielt Jonathan den Riemen eine Weile in der Hand. Er war an zwei Stellen am Beutel befestigt und es würde Jonathan nicht viel Mühe kosten, die Knoten zu öffnen. Ein idiotisches Vorhaben, schoss es ihm durch den Kopf und sofort ermahnte er sich. Was bist du für eine erbärmliche Kreatur, fluchte er innerlich, dass du schon wieder ungestraft davonkommen willst. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, ließ den Riemen los und verließ den Raum.

Am späten Nachmittag dann, als die anderen Schüler begonnen hatten, ihre Sachen zusammenzupacken, setzte sich Jonathan an sein Pult und brachte die Wachstäfelchen, auf denen er seine Ideen gesammelt hatte, in eine geeignete Ordnung. Seine Inventio, das Hauptthema, war diesmal kein politisches Ereignis, kein Verbrechen und auch kein Skandal, es war Tabitha. War er anfangs noch unruhig, gelang es ihm mit der Zeit doch immer besser, mit den Gedanken bei seiner Rede zu bleiben. Je länger er las, je mehr er sich in das, was er bereits ausformuliert hatte, hineinversetzte, umso weniger nahm er von den Geräuschen und Bewegungen um ihn herum wahr und umso weiter rückte sein Plan in eine Ferne, die ihn kaum noch berührte. Als sich Calvus von ihm verabschiedete, reagierte er nur so weit, wie es die Höflichkeit gebot, und fuhr augenblicklich damit fort, die richtigen Worte abzuwägen. Allerdings wurde ihm immer mehr bewusst, dass der trockene Stil eines Hermagoras von Temons nicht angemessen war, wenn er von seiner Liebsten sprechen wollte.

Tabitha war weit mehr, als was man mit sauberem trockenem Argumentieren erfassen konnte. Mit einem Mal kamen Emotionen ins Spiel. Jonathan sah sich selbst, wie er seine Liebe ungestüm herausschreien würde, was in einer Elocutio natürlich völlig unangebracht war. Doch er ließ seiner Fantasie freien Lauf, stellte sich vor, wie er von der Rednerbühne hinuntersteigen und Tabitha umarmen würde. Ein Kuss vielleicht. Doch das konnte nicht einmal innerhalb der Actio als angemessen gelten und es war es vor allem nicht am heutigen Abend, wie sich Jonathan mit einem Mal streng in Erinnerung rief.

Er wusste, dass er nicht mehr warten durfte. Doch bevor er in die Kammer gehen wollte, um den Riemen zu holen, räumte er sein Pult auf. Sein Vater hatte immer darauf bestanden, dass Jonathan seine Pflichten erledigt hatte, bevor er zur Züchtigung erschien. Ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken und eine Art Beklemmung füllte seinen Brustkorb aus. Jonathan beeilte sich. Dann kontrollierte er, dass die Fensterläden geschlossen waren. Vom Innenhof drang noch genug Licht in das Haus ein, sodass er sich mühelos im Raum zurechtfinden konnte. Auch die Knoten am Lederbeutel waren schnell gelöst. Jonathan entblößte seinen Oberkörper, legte das Gewand ordentlich zusammen und blieb dann eine Weile unentschlossen stehen. Wie dumm kann man nur sein, ging es ihm durch den Kopf, sich selbst zu geißeln. Doch im selben Moment war er entschlossen. Er hielt den Lederriemen in der Hand und stellte zufrieden fest, dass er nicht nur breiter war als die anderen, sondern auch schwerer. Das würde den Schmerz verstärken.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt