In dem Moment ging die Tür auf und Hanna trat ein. Sie hatte nicht angeklopft, was ungewöhnlich war. Der eindringliche Tonfall, mit dem sie Josephus ein paar lateinische Sätze zuflüsterte, ließen Jonathan darauf schließen, dass etwas vorgefallen sein musste. Obwohl sich seine Lateinkenntnisse in den letzten Monaten deutlich verbessert hatten, gelang es ihm nicht zu verstehen, was seine Tante so eilig zu berichten hatte. Es war Besuch für Josephus eingetroffen, so viel konnte er sich zusammenreimen. Wichtiger Besuch möglicherweise, doch das war nicht Außergewöhnliches. Denn sein Onkel kannte viele einflussreiche Männer. Geschäftsleute und Politiker gingen bei ihm aus und ein, um sich einen Rat zu holen oder einen Handel abzuschließen.
„Jonathan", sagte der Alte sanft, „würdest du so nett sein?"
Mit einer Geste deutete Josephus zur Tür, worauf hin Jonathan sofort aufstand und den Raum verließ. Er wusste nicht recht, wohin er gehen sollte, denn um aufzubrechen, war es noch zu früh, und in sein Zimmer wollte er nicht zurückkehren. Also verließ er das Anwesen über den Dienstboteneingang, und setzte sich, da niemand zu sehen war, auf die erste Stufe. Das Haus seines Onkels lag am Ende einer verhältnismäßig breiten, gepflasterten Straße und unterschied sich von außen nicht wesentlich von einem typischen zweistöckigen Domus, wie es die reichen Römer besaßen. Allerdings fehlte der Luxus, es war alles zweckmäßig eingerichtet. Auch fand man im Innenhof und auf der Straße keine Götterstatuen oder gar die Skulpturen wichtiger römischer Bürger. Der Erlass irgendeines Konsuls, dessen Namen Jonathan vergessen hatte, befreite das jüdische Viertel von derartigen Pflichten.
Je weiter man der Straße mit dem Auge den Aventin hinab folgte, desto bescheidener wurden die Unterkünfte. Jonathan wusste, dass wenige hundert Schritte unter den Häusern der reichen Juden, unweit des Macellum Magnum, des großen Schlachthofes, in Richtung der Via Appia der Weg nur noch aus gepresster Erde bestand. Dort hatte er auf seinen Spaziergängen zahlreiche armselige Hütten entdeckt, an deren Türpfosten liebevoll verzierte Mezuzot angenagelt waren. Auch gab es im jüdischen Viertel, das sich vom Aventin bis außerhalb der Mauern zwischen dem Tiber und den schroffen Ausläufern des Kapitols erstreckte, eine eigene Miliz, die in der Nacht für die Sicherheit der Straßen sorgte. Am Schabbat versammelte man sich im Haus des Nikodemus, das am Beginn der Via Nova lag. Dann las man Teile der Torah, anschließend wurde gegessen. Allerdings wurden weder Opfer dargebracht, noch gab es Gesänge und nur selten bekam man Predigten zu hören. Anfangs, als die Leute dem jungen Priester aus Jerusalem noch voller Neugierde begegnet waren, hatte er wieder und wieder den Priestersegen sprechen müssen. Aber da Jonathan darüber hinaus kaum ein Wort mit den übrigen Gläubigen wechselte, verloren sie schnell das Interesse. Jonathan blieb also für sich allein, genoss die Zeremonie, die schlicht und dabei kraftvoll war, und hielt sich nach den Ritualen oft noch länger in dem großen Saal auf, damit er beten konnte.
Auch jetzt, da er auf der kalten Steinstufe kauerte, den Rücken leicht an die Wand gelehnt, schloss er die Augen und stellte sich vor, in Jerusalem im Tempel zu sein. Das Gefühl der Nähe Gottes, die Vorstellung, einem Opfer beizuwohnen, den Ritus korrekt zu vollziehen, anschließend mit Tabitha im Tempelgarten zu flanieren oder mit Daniel aus Ölbaumholz kleine Tierfigürchen zu schnitzen, all das wühlte sein Inneres auf. Und je mehr er sich zurück erinnerte, desto klarer und schmerzlicher begriff er, dass er alles, was er liebte, für immer verloren hatte.
Wieder spürte er in dem Moment die Wut von zuvor, das übermächtige Gefühl von Schuld und zugleich ein eigenartiges Bedürfnis nach Strafe. Jonathan öffnete die Augen und betrachtete seine eigenen Hände. Der Vater hatte ihn die Ruten immer selbst holen und küssen lassen. Jonathan hatte dieses Ritual gehasst, er hatte seinen Vater gehasst und er hatte das, was er tat, als zutiefst ungerecht empfunden. Wenn Schlomo ihn gezwungen hatte, um die Züchtigung zu bitten, zu bekennen, dass ihm die Strafe gut täte und ihm dabei helfen würde sich zu bessern, in all diesen Augenblicken, hatte Jonathan genau gewusst, dass das, was er sagen musste, falsch war. Doch an diesem kühlen Herbstmorgen in Rom auf den Stufen des Dienstboteneingangs spürte Jonathan auf einmal eine absurde Sehnsucht nach seinem Vater und dessen Erziehungsmethoden, eine Sehnsucht, die ihn selbst erschrecken ließ. Wer sich schuldig macht, muss bestraft werden, schoss es ihm durch den Kopf und zugleich war da der alte Widerspruch. Gott ist gütig, sagte er sich, wie er es auch einmal dem Vater entgegen gehalten hatte. Aber ohne Strafe gibt es keine Gerechtigkeit, kam es in seinem Inneren sofort zurück.
Jonathan richtete sich ein wenig auf und drückte die Schulterblätter nun bewusst gegen die unebene Steinmauer. Das unregelmäßige, kantige Material drückte unangenehm durch den Stoff seiner Tunika. Und wenn ich mir selbst Gerechtigkeit verschaffe, überlegte Jonathan. Zum ersten Mal, seit er Jerusalem verlassen hatte, war ihm etwas leichter. Schlomo hatte ihm gezeigt, wie ein Mann die Geisel gegen den eigenen Körper führen kann. Es schien nicht allzu schwierig zu sein. Alles, was Jonathan brauchte, war ein geeigneter Lederriemen und ein Ort, wo ihn niemand hören würde. Beinahe zufällig streifte sein Blick die Sonnenuhr auf der gegenüberliegenden Hausfassade. Es ist Zeit, mahnte sich Jonathan und machte sich gleich darauf auf den Weg in die Rhetorikschule.
Im Laufschritt eilte er den Aventin hinunter, am Circus Maximus vorbei und passierte schließlich die Basilica Sempronia, die unterhalb des Palatins gelegen war. Anfangs hatte Josephus nicht vorgehabt, Jonathan in der Redekunst unterrichten zu lassen, denn er stand der neuen griechischen Mode durchaus mit einer gewissen Skepsis gegenüber. Aber als er erfuhr, dass Gaius Licinius Macer Calvus, der seinerseitsvon Kaikilios, einem Juden aus Sizilien, ausgebildet worden war, gerade ersteine neue Schule eröffnet hatte, änderte er seine Meinung. Hättest du Kaikilios nur predigen gehört, hatte er geschwärmt, wie Mose im Land Moab, sauber, einfach, sachlich und präzis. Jonathan hatte sich insgeheim gefragt, woher der Onkel denn wissen wolle, wie Mose gepredigt hatte, aber da er keine Lust auf ein Streitgespräch hatte, schwieg er. Aus demselben Grund hatte er trotz seiner anhaltenden Apathie dem Drängen des Josephus, sich in der Kunst der Rhetorik ausbilden zu lassen, nachgegeben. Auch hätte er keine überzeugenden Gegenargumente nennen können, denn die Ausrede, dass sein Latein nicht gut genug sei, war leider schon lange nicht mehr zu gebrauchen.
Als Jonathan das kleine Gebäude am Ende des Vicus Iugarius erreichte, stand Calvus bereits vor der Tür und wartete auf die letzten Schüler. Er war einen Kopf kleiner als Jonathan selbst, glich den Nachteil seiner Statur aber umso mehr durch außergewöhnliche Eloquenz aus und durch eine Stimme, die angeblich Berge versetzen konnte, wie man sich in Rom zuflüsterte. Während Jonathan seinen Lehrer höflich grüßte, musste er einmal mehr an seinen Onkel denken, der es sich trotz allem Respekt gegenüber Calvus nicht nehmen hatte lassen, doch die eine oder andere boshafte Bemerkung über ihn zu machen. Und natürlich hatte er in gewisser Weise Recht, denn die ungewöhnlich schnelle Bewilligung der Einrichtung rührte wohl daher, dass der Vater ihres Betreibers gerade als Prätor amtierte und also einer jener acht Männer war, denen die römische Verwaltung unterstand.
Jedenfalls war die Entscheidung kein Fehler, dachte Jonathan und ging an Calvus vorbei zu seinem Pult. Obwohl er seine Unterlagen tags zuvor ordentlich zurückgelassen hatte, überprüfte er noch einmal, ob alle Texte bereitlagen, die er heute brauchen würde. Zurzeit war er damit beschäftigt, die drei Reden seines Lehrers Calvus gegen dessen ersten Gegner Vatinius auswendig zu lernen. Besonders die ersten beiden waren beispielhaft gestaltet, eine Mischung aus trocken vorgetragenen Argumenten und kunstvoll eingesetzten Sprachspielen, die dem Anwalt des Vatinius kaum eine Gelegenheit gelassen hatten, wirkungsvoll Kontra zu geben. Behutsam nahm Jonathan das Pergament in die Hand. Während er es aufrollte, zitierte er innerlich: Quero vos iudices. Ich frage euch, Richter, ob ich deswegen, weil Calvus so beredt ist, verurteilt werden muss! Mit diesen Worten war der arme Vatinius aufgesprungen und hatte selbst seine Verteidigung übernommen, was in einem Prozess äußerst unüblich war. Leider hatte ihm auch das nichts genützt. Er wurde für schuldig befunden, Calvus dagegen wurde berühmt.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...