Am nächsten Schabbat veranstaltete Alexander einen triumphalen Einzug in Jerusalem. Nachdem er auf seinem weißen Hengst bis zu der Holzbrücke geritten war, die zum Tempelberg führte, ließ er sich von einer großen Gruppe an Priestern, die der Schatzmeister Schlomo ben Ahitub anführte, in den inneren Bereich des Tempels eskortieren. Dort zog er das Choschen, das mit zwölf Edelsteinen besetzte Brustschild des Hohenpriesters an und opferte am Hauptaltar einen weißen Stier. Obwohl am Schabbat keine offiziellen Sitzungen stattfinden durften, verweilte er lang im Tempel und unterhielt sich mit den Mitgliedern des hohen Rates. Gewiss hatte Alexander lange zuvor schon beschlossen, König zu werden, und natürlich war die Beratung mit den Ältesten und den in der Stadt verbliebenen Aristokraten lediglich eine Inszenierung, um den Sohn des Aristobulus als gläubigen frommen Juden auszuweisen. Nichts desto trotz aber fand man Alexander, als die Tore des Tempels schließlich geöffnet wurden, am Boden kniend ins Gebet vertieft.
Hyrkan war unterdessen mitsamt seinem Hofstaat und einigen wenigen Adeligen wohlbehalten in Jericho eingetroffen und hatte seinen vorläufigen Regierungssitz bezogen. Beim Winterpalast handelte es sich um eine weitläufige prunkvolle Anlage, die im Wesentlichen aus einem eingefriedeten Hauptgebäude und zwei die Seiten flankierenden Bauwerken bestand, welche einander wie eineiige Zwillinge glichen. Die Rückseite der Festung wurde von einer steil abfallenden Klippe geschützt, der vordere Bereich von einer massiven Mauer. Die großzügigen Badeanlagen, der riesige Garten und die kunstvoll gestalteten, luxuriösen Räumlichkeiten ließen den neuen Hausherren die Bequemlichkeiten, die er von Jerusalem gewohnt war, nicht missen. Und da man nur wenige Soldaten in Jerusalem zurückgelassen hatte, wurde der Palast des Etnarchen von einer ungewöhnlich großen Zahl an bewaffneten Männern bewacht, die sich Tag und Nacht in Alarmbereitschaft befanden.
Während Hyrkan selbst also einigermaßen sorglos der Dinge harren konnte, teilten sich seine führenden Offiziere die wichtigsten strategischen Punkte auf: Antipater schlug sein Lager bei Bethel auf und kontrollierte nun mit seiner Garde die Straße nach Damaskus. Eleazar und Phasael übernahmen die Verantwortung für die Gegend südlich von Jerusalem und stationierten ihre Soldaten in der Festung von Bethbasi. Die Truppen des Peitholaos schließlich bezogen in zwei kleineren Festungen zwischen Jerusalem und Jericho ihre Stellung. Aber auch Alexander war nicht untätig. Schon am ersten Tag nach dem Schabbat erteilte er den Befehl, die Mauer von Jerusalem instand zu setzen. Außerdem bildete er Bautruppen, welche die geschliffenen Festungen Hyrkania und Machareus im Ostjordanland sowie Alexandreion bei Koreai wieder aufbauen sollten.
Die Ruhe, die zwischen den beiden feindlichen Fraktionen herrschte, war jedoch nur von kurzer Dauer. Denn Aulus Gabinius hatte sofort begriffen, dass er die Rückeroberung Jerusalems zügig vorantreiben musste. Die zwei Legionen, die er im Eilmarsch von Damaskus nach Jerusalem vorrücken ließ, waren keinem anderen als ihm selbst unterstellt. Als Gabinius jedoch das Marschtempo zu langsam erschien, entschied er, unter dem Befehl von Marc Anton vier Kohorten vorauszusenden. So kam es, dass nicht einmal ein Monat seit Alexanders triumphalem Einzug verstrichen war, als die Truppen des syrischen Statthalters schon knapp drei Meilen nördlich von Jerusalem ihr Feldlager aufzubauen begannen. Und auch wenn sich noch nicht klar erkennen ließ, was das unmittelbare Ziel des Gabinius sein mochte, zeichnete sich doch bereits in den ersten Tagen der Belagerung ab, dass Alexanders Kapitulation nur eine Frage der Zeit sein würde.
„Er kann die Stadt nicht halten", sagte Peitholaos zu sich selbst, als er wie so oft in den letzten Tagen vom Ölberg aus auf Jerusalem herunterblickte. Unmittelbar nach Gabinius' Ankunft waren alle verfügbaren Truppen rund um Jerusalem stationiert und die Aufgaben neu verteilt worden. Peitholaos und seine Männer sollten im Wesentlichen die Stellung am Ölberg halten und von hier aus den flüchtenden Gefolgsleuten Alexanders den Weg abschneiden. Den eigentlichen Kampf um die Stadt wollten die Römer selbst erledigen. So viel war klar geworden, auch wenn sich Gabinius von seinen jüdischen Verbündeten, denen er allesamt nicht zu trauen schien, nicht in die Karten blicken ließ. Sie alle hatten von ihm wohl Befehle erhalten, waren aber nie zu einer Besprechung der römischen Offiziere eingeladen worden.
Lediglich Antipater hatte Gabinius einmal kurz empfangen. Peitholaos hatte an diesem Abend die Szene aus einiger Entfernung beobachtet, und Antipaters wütender Gesichtsausdruck hatte ihn zum Schluss gebracht, dass es im Augenblick besser war, den Strategos nicht auf die Unterredung anzusprechen. Dem lauten Wortwechsel, den Antipater kurz darauf mit Phasael und Herodes geführt hatte, hatte Peitholaos entnommen, dass Gabinius offensichtlich weder den Rat des Idumäers anzunehmen gewillt war, noch ihm eine besondere Rolle in der bevorstehenden Schlacht zuzuteilen vorhatte. Schade für seine beiden jämmerlichen Söhne, dachte Peitholaos spöttisch, dann werden sie sich auch in diesem Kampf keinen Ruhm verschaffen können. Seit ihrem letzten Zusammentreffen in der Festung Churvat Mezad hatte Peitholaos mit den Brüdern nur das Nötigste gesprochen, keiner der drei Männer gab sich Mühe, die eigene Geringschätzung zu verbergen. Wieder fiel Peitholaos Blick auf das spärliche Stück Stadtmauer, das Alexander in den letzten Wochen erbauen hatte lassen.
„Ob er es weiß?", fragte er sich halblaut und fuhr überrascht herum, als er hinter sich Malichos Stimme hörte.
„Ob er was weiß, Herr?", erkundigte sich der und stellte sich neben seinen Vorgesetzten.
„Dass er die Stadt nicht halten kann", gab Peitholaos stumpf zurück, denn im Unterschied zu den übrigen Offizieren erfüllte ihn die Erwartung des bevorstehenden Sieges nur mit mittelmäßiger Begeisterung. Was wir brauchen, ist ein starker jüdischer König, der nicht vor den Römern im Staub kriecht. Einen wie Alexander, sagte er sich und verwarf den Gedanken im selben Augenblick. Denn schließlich befehligte Peitholaos Hyrkans Männer und es ziemte sich nicht, dass er seinem Gegner größere Sympathien entgegenbrachte als dem eigenen Regenten.
„Er wäre blind, wenn er das nicht sehen würde", gab Malichos großspurig zurück. „Zwar dürften sie zahlenmäßig leicht überlegen sein. Aber die zehntausend unerfahrenen Söldner, die Alexander im Umland zusammengewürfelt hat, werden gegen die zwei gut ausgebildeten und schwer bewaffneten Legionen kaum etwas ausrichten können." Malichos Stimme war selbstgefällig und Peitholaos fröstelte unwillkürlich. Ob wegen der leichten Brise, die den Morgen vom Westen her auffrischte, oder weil er sich vorstellte, wie in den nächsten Tagen oder vielleicht sogar schon Stunden tausende Juden in ihren sicheren Tod gehen würden. Dass Gabinius die praktisch ungeschützte Stadt noch nicht angegriffen hatte, konnte nur daran liegen, dass er sich eine Schlacht in den engen Gassen von Jerusalem ersparen wollte.
„Noch dazu hat der Dummkopf seine Truppen aufgeteilt", spottete Malichos. „Wenn unsere Späher recht haben, soll eine größere Gruppe die gerade errichtete Nordmauer bei der Baris sichern, zwei- bis dreitausend Soldaten haben bei der Zitadelle westlich des Königspalastes ihre Stellung bezogen."
„Du redest zu viel", entgegnete Peitholaos scharf und es war ihm dabei gleichgültig, ob er seinen Gefährten beleidigt hatte. Überhaupt hatte ihn seit ein paar Tagen eine Art Teilnahmslosigkeit ergriffen. Während die Kampfvorbereitungen um ihn herum auf Hochtouren liefen, konnte er der Vorstellung, bald in die Schlacht zu ziehen, nichts abgewinnen. Die Spannung, die Aggression, die Sehnsucht danach, sich Mann gegen Mann mit dem Feind zu messen, all das, was ihn in den letzten Jahren von Kampf zu Kampf getrieben hatte, nichts davon fand er in seinem Inneren wieder. Die starken unbändigen Gefühle von damals waren bloß vage, längst verblasste Erinnerungen. Zumindest ist meine Familie in Sicherheit, ging es ihm durch den Kopf. Denn nachdem Peitholaos über das Vorrücken von Alexanders Truppen informiert worden war, hatte er seine Frau und die Kinder nach Thecoa zu seiner Schwester bringen lassen. Das Dorf lag etwa einen halben Tagesmarsch südlich von Jerusalem im judäischen Gebirge. Der Weg war schwer passierbar, fern ab jeder Karawanenroute, ein Ort also, der von den Kämpfen um die Hauptstadt herum nicht berührt werden würde. Doch selbst diese Gewissheit war ihm nur ein schwacher Trost.
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Priester und Könige
Historical FictionJerusalem, im Frühjahr 58 vor Christus. Jonathan und Tabitha sind die Kinder zweier einflussreicher jüdischer Priester. Im Sinn ihrer eigenen Machtinteressen befürworten ihre Väter eine Eheschließung und auch Jonathan und Tabitha sind einander in Li...